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Simply the Best
Warum wollen Jahr für Jahr über 90.000 Menschen in London den
Marathon laufen? Diese Frage stellt sich niemand, der das Spektakel
schon einmal erlebt hat. Ulf Bosch ist längst infiziert. Zum zehnten Mal
war er 2005 in London dabei – inmitten von Weltklasse-Langstrecklern,
Joggern, Hausfrauen und vielen Lauf-Verrückten
Jeder Marathoni kennt die Frage. „42 km – warum?“ lautet sie und ist ein
sicheres Indiz dafür, dass ihr Urheber noch nie einen Marathon gelaufen
ist. Ähnlich verhält es sich mit meiner 10-maligen Teilnahme am
London-Marathon. Jeder, der dieses Spektakel einmal miterlebt hat,
möchte immer wieder dort starten.
Der London-Marathon ist mehr als eine Sportveranstaltung – er ist die
längste Straßenparty der Welt. Die gesamte Stadt befindet sich im
Ausnahmezustand. Entlang der Stecke vibriert die Luft geradezu von den
Rhythmen der zahlreichen Musikbands, den Anfeuerungen der
Zuschauermengen und natürlich den über 45.000 Fußpaaren, die über die
Distanz von 42 km den Asphalt bearbeiten. Zusätzlich verfügt London über
eine der schönsten und schnellsten Strecken der Welt, die an
Sehenswürdigkeiten wohl kaum zu überbieten ist: Greenwich, Cutty Sark,
Tower Bridge, Canary Wharf, Big Ben, Westminster Abbey und schließlich
das Finish bei The Mall am Buckingham Palace. Nicht verwunderlich ist
daher, dass sich alljährlich etwa 90.000 Läufer für knapp die Hälfte
verfügbarer Startplätze bewerben.
Der diesjährige Lauf hatte es in sich: Zu meinem 10-jährigen Jubiläum
startete meine Freundin zum ersten Mal mit mir bei einem Marathon.
Zusätzlich feierte die Veranstaltung selbst ihren 25. Geburtstag und
erstmalig wurde der traditionelle Kurs geändert. Jedoch bewahrheitete
sich zunächst der erste Teil des Sprichworts „Je schlechter die Anreise,
desto besser der Wettkampf“. Die Odyssee begann mit einem um 2 Stunden
verspäteten Abflug. Dazu hätte British Airways mich fast nicht
mitgenommen, da ich meinen Ausweis zu Hause vergessen hatte. In London
stellten wir fest, dass wir die Registrierungen zum Abholen der
Startnummern auch nicht dabei hatten. Glücklicherweise händigte uns
Paul, ein freundlicher Helfer und selbst 12-maliger London-Finisher, die
Unterlagen ohne Umstände auf der Marathonmesse aus. Doch nach diesen
ersten Anlaufschwierigkeiten stellte sich langsam die Vorfreude auf den
Lauf ein. Auf eine gewisse Weise genoss ich die „Ruhe vor dem Sturm“ in
der Phase unmittelbar vor den Wettkampf, da alle Trainingseinheiten
absolviert und alle Vorbereitungen getroffen waren. Ich konnte nichts
anderes tun, als gespannt darauf zu warten, dass es endlich losging.
Am Samstag vor dem Rennen ist der Hyde Park der Treffpunkt der Laufszene
und vor allem derjenigen, die noch kurz vor dem Rennen Ihre Beine
„testen“ wollen. Der Wettkampftag begann um 6.30 Uhr. Zum ersten Mal
fuhr ich nicht wie gewohnt mit der Dockland Light Railway zum Start nach
Blackheath, sondern nahm den Shuttlebus. Schon während der Busfahrt
entlang der Themse wurde deutlich, dass die äußeren Bedingungen heute
nahezu ideal sein würden: Strahlend blauer Himmel und 9 Grad
Lufttemperatur. Nur ein wenig Wind blies aus westlicher Richtung.

Erwartungsvoll: Ulf und Freundin vor dem Start
Um einen schnellen Start zu gewährleisten, gibt es in London insgesamt
drei getrennte Starterfelder, die nach einigen Meilen aufeinander
treffen. Als Läufer mit einer Bestzeit unter drei Stunden war ich der
ersten Box zugeordnet, was mir eine viel bessere Ausgangsposition als
bei meiner ersten Teilnahme verschaffte. Damals war ich als „Middle of
the Pack“-Läufer in einer der hinteren Boxen gelandet. Dies hatte zur
Folge, dass es geschlagene 10 Minuten dauerte, bis ich die Startlinie
überqueren konnte. Anno 1996 gab zudem noch keine individuelle Erfassung
der Start- sondern lediglich der Endzeiten. Für alle, die hinten
standen, war das Rennen quasi schon gelaufen, bevor es begonnen hatte.
Heute, im Zeitalter von Realzeit-Erfassung mit Championchip und direkter
SMS-Benachrichtigung aufs Handy, ist dies beinahe undenkbar.
Start: 45 Minuten nach dem Start der Elitefrauen erfolgte der
Massenstart für den Rest von uns. Was viele überraschte, waren die Hügel
auf den ersten 5 Kilometern. Um meine Beine nicht zu diesem frühen
Zeitpunkt gleich zu malträtieren, ging ich auf den langezogenen Gefällen
etwas vom Gas.
Kilometer 10: Mit dem historischen Handelsklipper Cutty Sark
präsentierte sich kurz nach der 10 km-Marke das erste Highlight des
Kurses. Obwohl noch recht früh am Morgen, war die Stimmung hier schon
richtig beeindruckend und ich erhielt viele motivierende Zurufe.
Ich konzentrierte mich auf meinen Rhythmus, meine Technik und ein
regelmäßiges Trinken. In London ist die Angst, nicht genug zu trinken zu
bekommen, völlig unbegründet. Hier werden die Läufer an insgesamt 23 (!)
Stationen mit Wasserflaschen versorgt. Zusätzlich gibt es an 5 Stellen
den vom Veranstalter eigenproduzierten Isodrink Lucozade. Das Getränk
ist nicht schlecht – wäre es dabei nicht so klebrig... Im Umkreis von
100 Metern um die Stationen bleiben die Laufschuhe geradezu am Asphalt
kleben. Mittlerweile machte sich auch die Sonne bemerkbar. Obwohl es an
den verregneten Vortagen nicht danach ausgesehen hatte, wurden die
aufgebauten Duschkorridore zahlreich in Anspruch genommen.
Halbzeit: Entlang der Surrey Quays wuchsen die Zuschauermengen mit jedem
Meter und nach einer scharfen Rechtskurve ging es dann über die Tower
Bridge. Es ist für jeden Läufer ein unvergessliches Erlebnis, unter dem
Beifall tausender begeisterter Zuschauer hier die Themse zu überqueren.
Gleichzeitig stellt sich bei vielen eine gewisse Erleichterung ein, da
die Hälfte der Strecke nun geschafft ist. 1:21 Stunden zeigten mir, dass
zeitlich bisher alles im „grünen Bereich“ war.
Auf der nördlichen Flussseite bogen wir dann auf den Highway ein. Hier
verläuft der Hin- und Rückweg zur Isle of Dogs für eine Meile parallel,
was den Läufern die Möglichkeit gibt, einen Blick auf die übrigen
Athleten zu werfen. So konnte ich auf der gegenüberliegenden
Straßenseite die Eliteläuferinnen Chepkemei und Okayo vorbeirauschen
sehen.
Aufgrund der Streckenänderung zur Vermeidung des Kopfsteinpflasters am
Tower Pier vollzog sich die Ostschleife durch die Docklands erstmals
gegen den Uhrzeigersinn. Es war schon ein ungewohntes Gefühl, den Kurs,
den ich bereits so oft gelaufen war, nun von der anderen Seite zu
erleben. Der Wind frischte auf diesem Streckenabschnitt deutlich auf,
sodass es spürbar leichter war, im Windschatten einer Gruppe zu laufen.
Kilometer 30: 2:00 Stunden zeigte die Uhr – soweit, so gut. Mit dem
Passieren der Chip-Matte aber stellte sich ein beklemmendes Gefühl in
der Leistengegend ein. Um den Schaden einzudämmen, verlangsamte ich das
Tempo bis zur nächsten Verpflegungsstation. Dort kühlte ich die
schmerzenden Stellen mit Wasser. Von lockerem Laufen konnte jetzt keine
Rede mehr sein. Zum Glück machten sich bis dato keine
Ermüdungserscheinungen bemerkbar und die gefürchtete „Mauer“ blieb aus.
Ablenkung hatte ich genug. Obwohl die Stimmung in den letzten Jahren
immer Weltklasse war, hatten dieses Mal mit 750.000 Zuschauern besonders
viele Menschen den Weg an die Strecke gefunden. Diese erfreuten sich vor
allem an den kostümierten Spaßläufern, die mit viel britischem Humor zur
allgemeinen Erheiterung beitrugen. In diesem Jahr waren Helden angesagt:
Die komplette Star Wars Crew, Batman und Robin sowie Superman waren
unterwegs. Am Tower of London wurden der Beifall und die Anfeuerungen
dann fast ohrenbetäubend laut. Umso angenehmer empfand ich es, als wir
für einige Minuten im Blackfriars-Tunnel verschwanden.
Das abschließende Streckenstück entlang Victoria Embankment war
Geduldssache. Ich nenne es „Sechs Brücken“, da man sich an der Zahl der
Brücken bis zum Big Ben gut orientieren kann.
Ziel: Die Zeiger von Big Ben standen auf 12:30 Uhr, als ich rechts in
den Birdcage Walk einbog. Bei genauem Hinsehen konnte ich von hier aus
bereits den Zielbereich quer durch den St. James Park sehen. Eine letzte
Kurve beim Buckingham Palace – und ich bog auf die Zielgerade ein. Mit
The Mall hat der London Marathon das wohl exklusivste Finish überhaupt.
Die Zeitangabe in Sichtweite, zog ich das Tempo noch einmal an und lief
nach 2:56 Stunden über die Ziellinie. Geschafft! Zehn Mal in Folge!

Ulf zeigt es an: 10. London Finish in 10 Jahren. (Foto: privat)
Früher als erwartet und beachtlich unangestrengt sah ich meine Freundin.
Obwohl meine Beine eigentlich schon genug für heute hatten, begab ich
mich erneut auf die Strecke und lief mit ihr mit. Nach 4:19 Stunden war
ich zum zweiten Mal im Zielbereich. Was für ein perfekter Tag!
Abends trafen wir uns mit anderen Läufern auf ein Pint im Pub. Obwohl
dort jeder seine eigene Geschichte zu diesem Tag zu erzählen hatte –
einig waren wir uns in einem Punkt alle:
„London Marathon – Simply the Best!“

© Ulf Bosch,
aktiv laufen Nr. 3/2005
(veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Redaktion)
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