Viermal hintereinander war ich zuvor in London gelaufen. Immer war das
Wetter gut, im letzten Jahr sogar zu warm. Auch diesmal werden die
kostenlosen Liegestühle in den königlichen Parks bereits rege genutzt, und
unsere Trainingsläufe am Freitag und Samstag sind ein Genuß. Besonders,
als wir in der Morgensonne auf der schon gesperrten Zielgeraden laufen
dürfen.
Aber dann kommt es, wie es irgendwann ja einmal kommen musste. Am
Sonntagmorgen empfängt uns ein unfreundlicher, kalter Nieselregen. Eine
frühe Ankunft im Startgelände ist bei einer solchen Großveranstaltung
unvermeidlich, und so warten wir schließlich, eingehüllt in die gelben
Plastiksäcke unserer Reisegesellschaft Inter Air, ungeduldig auf den
Startschuss um 09.45 Uhr. Verkürzt wird die Wartezeit durch das
Vorbeidefilieren allerlei merkwürdig kostümierter Läufer. Besonderes
Vergnügen bereiten dem englischen Gemüt immer wieder Plastik-Körperteile,
die Nacktheit an eher privaten Partien vortäuschen. Gleich mehrere solche
Exemplare bauen sich vor uns auf, während mein Arbeitskollege Klaus und
ich unter meinem kleinen Regenschirm auf einer Baumwurzel kauern.
Wie gewohnt bleiben die LKWs für die Kleidersäcke bis zum Startschuss
geöffnet, und es ist kein Problem, erst 20 Minuten vor dem take-off in die
geräumige Box 3 für Läufer bis 3:30 zu gehen und sich weit nach vorn zu
drängeln. Nur unsere Füße sind schon jetzt ziemlich nass.
Wir, das sind neben mir 3 Läufer aus der Inter Air Reisegruppe: Klaus, 50,
der bei seinem 2. Marathon möglichst nah an die 3:30 kommen möchte; Timo,
18, der eine Rakete auf kurzen Distanzen ist, aber die Langstrecke bisher
nicht richtig einteilen konnte; und Wilfried, 48, erfahrener Dauerläufer
und eigentlich zu schnell für uns, der sich aber nach langer
Trainingspause nicht völlig fit fühlt und von uns bremsen lassen möchte.
Kurz vor Viertel vor Zehn werden die Startblocks nach vorn
zusammengeschoben, wir biegen durchs Parktor nach links auf die
Startstrasse und dann geht’s auch schon los. Nach 50 Sekunden kreuzen wir
die Chip-Matte.
Auf den ersten 2 Meilen lassen wir es vorsichtig angehen und vermeiden
kraftraubende Überholungsmanöver. Hier sind die Zuschauer noch dünn gesät,
aber plötzlich knallt über uns eine Konfetti-Kanone und gibt uns einen
Vorgeschmack auf das, was noch folgen sollte. Dann zieht die Gruppe des
Zugläufers für 3:15 an uns vorbei. Timo kann nicht widerstehen und hängt
sich dran - da waren’s nur noch drei. Wir sahen Timo erst im Ziel wieder.
Klaus bleibt noch bei uns, obwohl ich auf den nächsten 2 Meilen etwas
ungeduldig werde und das Tempo etwas zu stark verschärfe.
Das erste richtige Highlight ist vor uns: Greenwich mit der Umrundung des
Teeklippers Cutty Sark. Die BBC-Kamera schwebt wie immer über den Köpfen
der Läufer. Ich winke mit der ganzen Meute hinauf. Hier bekommen meine 2
Mitläufer auch erstmals einen Eindruck von der Begeisterung des Londoner
Publikums. Für Klaus ist dieses Tempo auf Dauer zu hoch, er läßt sich
vernünftigerweise allmählich zurückfallen – da waren’s nur noch zwei.
Wilfried überläßt mir die Tempofindung und sieht dabei sehr locker aus.
Jetzt laufe ich erstmals am Rand direkt neben den Zuschauern. Prompt werde
ich serienweise angefeuert: „Ullli“ „Germany“ „Uli-Uli-Uli“. Wilfried
wundert sich. „Was steht denn da vorn auf Deiner Brust?“ Mein Namensschild
ist diesmal besonders groß geraten und wird zusätzlich von deutschen
Farben geziert.
Wilfried biegt ab zu einer Pinkelpause in der Grünzone. Da komm ich mit,
es drückt schon seit dem Start. Das kommt davon, wenn man schon vor dem
Umziehen zum letzten Mal geht statt unmittelbar vor dem Betreten des
Startblocks. Wir verlieren 30 Sekunden, wie die nächste Zwischenzeit
offenbart.
Genau bei km 20 kommt der sicherlich größte Moment des ganzen Laufs. Man
biegt rechts um die Ecke und hat die Tower-Bridge vor sich. Was hier
abgeht, muss man selbst erleben. Wir werden unwillkürlich langsamer,
Wilfried sucht vergeblich in den Zuschauermassen nach seiner Familie.
Dann kommt uns die Spitze entgegen. Rutto und Korir fliegen gegenüber
vorbei. Sie sind bei Meile 22, wir bei 13. Alle 4 sind wir genau im Plan:
1:40. Für uns geht es in die Docklands. Unter dem Canary Wharf Tower
ballen sich wieder die Zuschauer, doch von nun an lassen sie uns nicht
mehr allein. Die Straße wird enger, es gibt viele Eindrücke zu
verarbeiten. Inzwischen regnet es heftig und ununterbrochen. Vor lauter
Konzentration auf den Lauf vergesse ich, mich aus meinem Trinkgürtel zu
bedienen. Prompt gerate ich bei km 25 in eine kleine Krise. Ich tanke
nach, und das hilft relativ schnell. Wir halten unvermindert unser Tempo
von 7:40/Meile bzw. 4:46/km. Wilfried ist jetzt mein Schrittmacher. Wir
werden nicht schneller, und doch habe ich das Gefühl, als flögen wir nur
so an den anderen vorbei. Wilfried fragt nach der Zeit: Kurs auf 3:22.
„Dann sollten wir etwas verschärfen.“ Doch da kneife ich. Dennoch: „Noch
nie habe ich mich bei km 30 so gut gefühlt.“ Wilfried ist im
Endorphin-Rausch und winkt den Zuschauern zu.
Beinahe pausenlos höre ich jetzt: „Uli-Uli-Uli.“ Rechts am Tower Thistle
Hotel steht wie jedes Jahr die Fan-Gruppe der Konkurrenz von
Karstadt-Reisen. Auch sie feuern mich lautstark an. Links hält mir eine
junge Frau begeistert einen Mars-Riegel entgegen: „Uli – well done“. Ich
strahle sie an und halte den Daumen hoch. Aber den Mars-Riegel darf sie
dem nächsten geben. Dann entschwindet Wilfried nach vorn. Er sieht sehr
locker aus. Mir schwappt das Regenwasser in den Schuhen.
Am Embankment, wo ich mich in den letzten Jahren so gequält habe, strahle
ich mit den Zuschauern um die Wette. Ich nehme die Zwischenzeit bei Meile
24 und bin sicher, dass es eine Bestzeit wird. Einen kleinen Knacks
bekomme ich, als die nächste Markierung nicht die erwartete Meile 25,
sondern erst km 40 ist. Aber es wird trotzdem reichen.
3:21:48. Das war nicht nur mein schnellster Marathon, noch nie bin ich so
stilvoll ins Ziel gekommen. Locker und aufrecht nehme ich die Medaille in
Empfang, posiere für das Foto, erhalte ohne Wartezeit meinen Kleiderbeutel
und kann mir sogar weitgehend schmerzfrei die Schuhe ausziehen. More gain
than pain in the rain, kann man da nur sagen. Obwohl ich später 5 blaue
Zehennägel zähle.
Am Treffpunkt warten Achim und Kelvin mit 120 Dosen Bier. Ich belasse es
bei einer, und die schmeckt wunderbar.
Und wie erging es den anderen? Wilfried hat mir noch über eine Minute
abgenommen. Für Timo war die 3:15-Gruppe doch zu schnell. Irgendwann muss
ich ihn unbemerkt überholt haben. Er kam nach 3:31 ins Ziel. Klaus wurde
bei km 35 von Krämpfen in beiden Oberschenkeln geplagt und verlor noch
viel Zeit. Es wurden immer noch respektable 3:50.
Ich weiß schon, was Ihr jetzt fragen wollt. „Ist es nach dem 5.
London-Marathon nicht genug?“ Dazu zitiere ich aus einem Mail-Eingang: „
... jetzt kann ich verstehen, warum London seit Jahren dein
Lieblingsmarathon ist ... perfekte Organisation ... Unzahl von
freundlichen Helfern ... habe u.a. Berlin, Hamburg und Köln erlebt, London
übertrifft sie alle“.
So isses.
PS. An Wilfried: Leider haben wir uns ja hinterher nicht
mehr gesehen. Deshalb an dieser Stelle ein dickes Dankeschön fürs
Tempomachen. Allein hätte ich das wohl nicht so geschafft.
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Vorfreude beim Testlauf auf der Zielgeraden
Kaum aus dem Bus und schon nass.
Ruhe vor dem Sturm am roten Start.
Auf dem Kran ist die BBC-Kamera.
Unser Block ist für 3:16-3:30. Der Eintritt wird konsequent kontrolliert.
Diesen Hintern hab ich später bei km 35 überholt.
Klaus trifft seine U-Bahn-Bekanntschaft wieder.
Die Figur "Mr. Man" steht für die charity
"Children with Leukaemia".
Das Massenfoto bei Meile 8 wird per
Chip so gesteuert, dass man sich
in der Menge selbst wiederfindet.
Meine Zugmaschine Wilfried und ich
in bester Stimmung auf der Tower Bridge.
siehe auch: alle
41 Fotos
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