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BRÜSSEL. Die Welt hatte 1942 andere Sorgen als sportliche Rekorde. Und
doch, als der Krieg begann, ein „totaler" zu werden, ließ noch einmal
die Nachricht einer sportlichen Leistung die Menschen aufhorchen. Es
waren gute Zeiten in schlechten Zeiten: die zehn Weltrekorde, die Gunder
Hägg binnen zehn Wochen auf den Strecken zwischen 1500 und 5000 Meter
aufstellte. Bis heute ist diese Rekordserie in der
Leichtathletikgeschichte unerreicht. Sie machte Hägg nicht nur
weltberühmt, sie machte ihn auch, so der Sporthistoriker Julin, zum
„nationalen Symbol der Inspiration für eine kleine Nation am Abgrund des
Krieges". Die Angst der Schweden blieb. Doch im Gegensatz zu den
Nachbarn in Norwegen und Dänemark blieb ihnen der Terror von Hitlers
Truppen erspart. Schweden hatte das Glück, statt Kriegshelden einen
Sporthelden feiern zu können.
Für den an Silvester 1918 in einem Bauernhof in den
nordschwedischen Wäldern geborenen Hägg war das Laufen ein Vehikel für
sozialen Aufstieg, für ein besseres Leben. Ein älterer Junge aus einem
Nachbardorf hatte als erfolgreicher Läufer einen guten Job in der Stadt
bekommen, bei der Feuerwehr. So wurde Hägg, der von klein auf harte
Waldarbeit mitverrichten mußte, vom Vater ermutigt, es auch mit Laufen
zu probieren. Seinen allerersten Lauf über 1500 Meter, auf einer vom
Vater abgemessenen 750-Meter-Waldstrecke, soll er in 4:45 Minuten
geschafft haben. Da war er sechzehn. Zwei Jahre später wurde er
Landesmeister, und der Weg zu „Gunder, dem Wunder" war vorgezeichnet.
Den ersten seiner 15 Weltrekorde lief er 1941, den letzten 1945.
Doch es waren die 32 Rennen im Sommer 1942, die ihn legendär machten: 32
Rennen ohne Niederlage, beinahe jede Woche ein Weltrekord. Fast nach
Belieben verschob Hägg die Bestmarken in seiner kurzen Karriere in
Bereiche, die erst ein Jahrzehnt später wieder erreicht wurden. Den
Rekord über 1500 Meter senkte er um 4,8 Sekunden, über die Meile um 5,0,
über 3000 Meter um 7,8, über 5000 Meter um 10,6 Sekunden. Als erster
lief er 5000 Meter unter 14 Minuten. Und aus seinen End- und
Zwischenzeiten läßt sich ziemlich verläßlich ableiten, daß er, bei
gezielter Vorbereitung, mühelos die Meile in 3:58 hätte laufen können -
also die „Traummeile" unter vier Minuten, die erst Roger Bannister 1954
schaffte.
Hägg grämte sich nicht über solch verpaßte Chancen. Nicht einmal
darüber, daß ihm ein Olympiastart verwehrt blieb: erst durch den Krieg,
dann durch die Funktionäre, die ihn 1946 wegen „Verstoßes gegen die
Amateurbestimmungen" auf Lebenszeit sperrten. Hägg nannte die Sperre
später „einen Segen". Der Verstoß gegen die Amateurregel, jene
anachronistische Idee vom Liebhaber der Leibesertüchtigung, war ja das
eigentliche Karriereziel des neuen, modernen Sportlertyps, den Hägg
verkörperte - Sport nicht als Weihung, sondern als Vehikel, als Stärkung
nicht der Ideale, sondern der Kaufkraft. Um den Ruhm als „Wunderläufer"
auch materiell auszukosten, war er 1943 auf einem Tanker sogar über den
U-Boot-verseuchten Atlantik gefahren, um in Amerika zu starten. Die
Chance, die seine Lauferfolge boten, packte der Bauernjunge beim
Schöpfe. Er bekam den Job bei der Feuerwehr in Gävle, dann den im
Sportgeschäft in Malmö. Als Kind mußte er in beißender Kälte Holz
hacken, als Mann konnte er in warmen Läden Krawatten und Damenhüte
verkaufen.
Während die schwedische Leichtathletik diesen Sommer mit den
Olympiasiegern Carolina Kluft (Siebenkampf), Christian Olsson
(Dreisprung), Stefan Holm (Hochsprung) eine Blüte erlebte wie seit dem
Rekordjahr 1942 nicht, konnte sich der immer noch sehr populäre Hägg nur
noch per Rollstuhl bewegen. Am Samstag ist er, kurz vor seinem 86.
Geburtstag, in einem Pflegeheim bei Malmö gestorben. Seine Bestzeit über
1500 Meter, 3:43,0 Minuten, hätte im Jahr 2004 immer noch für Platz eins
der schwedischen Rangliste gereicht.
©
CHRISTIAN EICHLER, FAZ
30.11.2004
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Quelle:
www.tradera.com

Quelle:
home.nordnet.fr

Quelle:
http://www.severskelisty.cz
siehe auch:
FAZ-Artikel zum
85. Geburtstag von Gunder Hägg
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