|
STOCKHOLM. Zehn Weltrekorde in 82 Tagen: Der Siegeszug Gunder Häggs ist
in der Leichtathletikge-schichte einmalig. Vom 1. Juli bis zum 11.
Oktober 1942 lief er 32 Rennen, gewann alle und stellte dabei zehn
Weltrekorde auf. Wie der Finne Paavo Nur-mi ein Jahrzehnt davor brach
Hägg alle Weltrekorde zwischen 1500 und 5000 Meter. Als erster
unterschritt er am 20. September 1942 auf der ihm wenig vertrauten
5000-Meter-Strecke die 14 Minuten - auf regennasser Bahn und bei
Gegenwind, zehn Sekunden schneller als der bisherige Rekord. Erst zwölf
Jahre später unterbot Emil Zätopek diese Bestmarke, und Häggs
Meilenrekord hielt neun Jahre, bis Roger Ban-nister 1954 erstmals unter
vier Minuten lief.
„Gunder, das Wunder" wurde rasch zu einer Legende und zum wohl
ersten Nationalidol seines Landes, obwohl er nie an Olympischen Spielen
teilnehmen konnte. In den Kriegsjahren - seine beste Zeit hatte er
zwischen 1941 und 1943, als er auf allen Mittelstreckendisziplinen
bester Läufer der Welt war, angestachelt auch von der Rivalität mit dem
Schweden Arne Andersson - fanden sie nicht statt, und im November 1945
wurde er wie Andersson wegen eines zweiten Verstoßes gegen
Amateurbestimmungen zeitlebens gesperrt.
Seitdem lebt Hägg, der an diesem Mittwoch 85 Jahre wird,
zurückgezogen nahe der südschwedischen Stadt Malmö: als Holzfäller,
Feuerwehrmann, Krawattenver-käufer und Verkäufer von Damenhüten. Er
verdiente sich ein Zubrot durch auch ins Deutsche übersetzte
Erinnerungsbände - seine letzte Autobiographie schrieb er 1987
- und Laufanleitungen. Seine Ratschläge waren ebenso unkonventionell und
unabhängig wie sein Leben: Um herkömmliche Regeln und Gefahren scherte
er sich nicht. Erst mit sechzehn begann er mit dem Lauftraining, zwei
Jahre später gehörte er zur Weltklasse. Aschen-bahnen betrat er nur zum
Wettlauf. Sonst übte er in Wäldern auf weichen Naturböden und im Schnee,
was angeblich die Lungen stärkte und die Sehnen schonte - sein
mythenumsponnenes Välätal wurde zum Eldorado schwedischer
Leichtathleten.
Zu einigen Läufen in den Vereinigten Staaten fuhr Hägg 1943 mit einem
Tanker über den Atlantik, obwohl dieser von Kriegsschiffen und Torpedos
beherrscht wurde, und in Berlin lief er zweimal mitten im Krieg. Daß er
sich nur um das Laufen, nicht um Politik oder strikte Amateur-regeln
kümmerte, wurde ihm zum Verhängnis: wie damals etwa 40 anderen aktiven
schwedischen Leichtathleten und 200 Funktionären.
Daß Gunder Hägg sich wenig um die Umwelt und deren „Nichtigkeiten"
scherte, zeigte schon sein Wohnzimmer. Er hängte darin zwei Urkunden
nebeneinander: einen Brief des schwedischen Königs, daß er der größte
Athlet des Landes sei, und den heftig umstrittenen Bescheid des
Verbandes, mit dem er gesperrt wurde. Auch Jahrzehnte nach seinem
beispiellosen Siegeszug wird sein Name geachtet. Nicht nur vor einem
Stadion in Gävle steht seine Skulptur, sondern auch vor dem Schwedischen
Rundfunk in Stockholm, dessen erste Direktsendung aus einem anderen
Kontinent ein Lauf Häggs in Amerika war. Briefmarken ehrten ihn ebenso
wie unzählige Bücher. Fonds und Stipendien tragen seinen Namen.
Professoren der Literaturwissenschaft und der Philosophie stellen in
neuen Werken über Sporthelden, Ideale und Moral Gunder Hägg in den
Mittelpunkt: Im Zweiten Weltkrieg, schreiben sie, hätten andere Länder
Kriegshelden gehabt, Schweden aber habe „seinen" Gunder Hägg gehabt, der
dem König den Rang ablief, dann aber beiläufig bemerkte, Sport
interessiere ihn nicht sehr.
Anhand seines Lebens widmen sich Studien dem Verhältnis von Natur und
Zivilisation und der „Sozialisierung zum Mann". Selbst die Stärkung der
Verteidigungsbereitschaft der Schweden im Weltkrieg wurde mit ihm in
Verbindung gebracht. Eine populäre „Proggband" nannte sich Gunder Hägg,
sie mußte sich aber nach einem Rechtsstreit mit ihm umbenennen. Sie
widmete ihm 1970 ein Lied über die Zeiten der Wölfe, Idealismus und
„schleimigen Kapitalismus": Das hat selbst der andere Wunderläufer Nurmi
nicht geschafft.
©
Robert von Lucius, FAZ
31.12.2003
|
|

Gunder Hägg
(Foto:
Nordnet.fr)
Buchtipps für Läufer
Lauf-Infos
auf der
Link-Seite
|