„Sei sicher, daß die Sache getan werden kann und
muß. Dann wirst du einen Weg finden."
(Abraham Lincoln,
Motto des Ironman Hawaii)
Als
Thomas Hellriegel, der Junge aus Büchenau bei Bruchsal, zum
Triathleten wird, ist er achtzehn. Bis dahin hat er ziemlich gut
Handball gespielt, ist geschwommen, hat Tennis gespielt, geturnt,
gekickt, von allem ein bißchen - bis er 1989 eine Übertragung des
Ironman auf Hawaii im Fernsehen sieht. Mark Allen und Dave Scott
liefern sich über 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren
und im abschließenden Marathonlauf einen achtstündigen Kampf, Kopf
an Kopf. Es ist ein faszinierendes Duell, eine Sternstunde des
Triathlons, und da reift in Büchenau, das vom Pazifik ungefähr so
weit weg liegt wie der Mond, ein wilder Entschluß. Hellriegel will
nach Hawaii.
Es dauert sechs Jahre, dann ist er dort, „im heiligen Land der
Triathleten", wie er sagt. 1995, bei seinem ersten Start auf Big
Island, fährt er die Konkurrenz mit dem Rad in Grund und Boden.
Dreizehn Minuten liegt er vor Allen, als er auf die Laufstrecke
geht. Nach 38 Kilometern, drei Kilometer vor dem Ziel, überholt
ihn Allen. Zweiter. Hellriegel kommt wieder. 1996 geht er mit drei
Minuten Vorsprung auf die Laufstrecke. Hellriegel läuft den
Marathon nach 3,8 Kilometern Schwimmen und 180 Kilometern auf dem
Rad in 2:46:55 Stunden, doch Langstreckenweltmeister Luc van
Lierde ist noch schneller, der Belgier bricht den Streckenrekord,
überholt Hellriegel kurz vor dem Ziel. Zweiter. Wieder nur
Zweiter. Hellriegel kommt zurück. 1997 soll es gelingen, und als
er am 18. Oktober in der Bucht von Kailua-Kona ins Wasser steigt,
hat er ein Jahr hinter sich, das er wie ein Mönch verbracht hat.
Nur: Er hat nicht gebetet, er hat trainiert.
„Die Frage ist: Wieviel willst du dir und deinem Körper
zumuten? Die Frage ist aber auch: Wieviel willst du deiner Umwelt
zumuten? Ich war in diesem Jahr bereit, allen extrem viel
zuzumuten, auch den Menschen in meiner Umgebung. Es gab nur noch
Training, Essen, Schlafen, es gab nur noch Sport. Ich habe für
nichts anderes mehr Interesse gezeigt. Ich bin um neun, um zehn
ins Bett, ich habe genau auf die Ernährung geachtet, ich habe
versucht, alles zu optimieren, ein ganzes Jahr lang, alles war
Hawaii, dem großen Ziel, untergeordnet. Am Ende war ich 800
Kilometer geschwommen, mehr als 20000 Kilometer radgefahren, 4500
Kilometer gelaufen. Ich hatte kaum noch sechs Prozent Körperfett,
ich war an der Grenze."
Hellriegel, mittlerweile 26 Jahre alt, hatte ein Jahr am Limit
gelebt, acht Stunden Training am Tag, Verzicht auf Privatleben.
Ein ganzes Jahr manisch fixiert auf einen einzigen Tag, auf einen
großen Traum. Im Flugzeug, im Supermarkt trägt er eine Wollmütze,
nur nicht erkälten, nur nicht krank werden jetzt.
„Wäre ich in den Jahren zuvor zweimal Fünfter gewesen oder
Achter oder Zehnter, dann hätte ich vielleicht gedacht, du bist
ein guter Profi und bist vorn dabei, das ist in Ordnung, aber
durch die zweiten Plätze bekommst du einen Kick. Ich hatte anfangs
ja nie damit gerechnet, auf Hawaii gewinnen zu können. Ich hatte
den Ironman im Fernsehen gesehen, dann war ich mit 24 zum
erstenmal auf Hawaii und plötzlich habe ich auf dem Rad Mark
Allen, der großen Legende, mehr als zehn Minuten abgenommen. Er
hat mich zwar noch geschlagen, aber es hat nicht viel gefehlt.
Dann denkst du: Die zwei Minuten, die fehlen, die sind auch noch
drin. Die zweiten Plätze haben mir gezeigt, was möglich ist - daß
ich gewinnen kann."
Die 3,8 Kilometer Schwimmen im offenen Meer sind für die
weitbesten Triathleten eine leichte Übung. Die ersten fünfhundert
Meter sind hart, da geht es zur Sache; aber dann hat jeder seine
Position gefunden, dann wird es ruhiger, der Puls sinkt, keiner
schwimmt mehr im roten Bereich. Nach einer knappen Stunde beginnt
das Rennen, auf dem Rad.
„Du merkst schnell, ob es rollt oder nicht, ob die Beine gut sind
oder nicht, und diesmal wußte ich gleich, daß es laufen würde. Es
ist etwas sehr Spezielles, in Hawaii auf dem Rad zufahren. Da sind
1500 Leute am Start, alle extrem trainiert, und keiner kann dir
folgen, das ist faszinierend."
Je schwieriger die Bedingungen, desto besser für die starken
Radfahrer, desto besser für Hellriegel. Und das Wetter meint es
diesmal gut mit ihm. Die Bedingungen sind so hart wie seit zehn
Jahren nicht mehr: 38 Grad im Schatten, hohe Luftfeuchtigkeit und
ein Wind, der im Laufe des Tages Sturmstärke erreicht, Böen mit 70
Kilometern pro Stunde blasen den Athleten entgegen. Hellriegel
läßt sich mehr Zeit als in den vergangenen Jahren. Er hat seine
Lektion gelernt. Langstreckentriathlon, das ist eine Frage der
Balance. Wie schnell darf ich radfahren, damit ich anschließend
noch schnell laufen kann? Hellriegel fährt an der Spitze in einer
Vierergruppe. Jürgen Zack aus Koblenz ist dabei, der Amerikaner
Ken Glah und der Australier Chris Legh.
„Die Schmerzen kommen beim Radfahren. Rücken, Beine, Nacken.
Ich denke sonst oft ans Aufgeben bei einem Ironman, fünfzigmal,
hundertmal, aber diesmal kam dieser Punkt nicht. Wenn du vorn
liegst, keine ernsten Probleme hast und deinen Traum vor Augen
siehst, dann geht es immer weiter. Im Rennen - ich weiß nicht,
warum - überkommt mich oft eine große Traurigkeit, auch diesmal.
Das war schon immer so. Eigentlich bin ich niemand, der zu
Depressionen neigt, im Gegenteil, ich freue mich auf jeden Tag,
aber im Rennen, in diesem Ausnahmezustand, fühle ich oft eine so
tiefe Traurigkeit, daß ich weinen könnte. Sie kommt und geht, ich
kann das nicht kontrollieren. Wenn ich in Führung liege und alles
gut läuft, ist das nicht anders, im Gegenteil: Es ist dann meist
sogar extremer, aber es behindert mich nicht, es ist nicht
leistungshemmend, ich habe sogar das Gefühl, daß ich auf dem Rad
dann härter, daß ich schneller fahre."
Zack versucht ein paarmal, aus der Gruppe wegzufahren, was für
Hellriegel den Vorteil hat, daß das Tempo hoch bleibt. Er kontert
und läßt den Konkurrenten am Ende doch ziehen - in der Gewißheit,
ihn beim Laufen wieder einzuholen. Hellriegel kommt drei Minuten
nach Zack in die Wechselzone. Umziehen, eine Minute Pause.
„Wenn du dich hinsetzt, reagiert dein Körper wie ein Auto, das
einen ganzen Tag über die Autobahn geprügelt wurde und nun anhält.
Er läuft heiß. Ohne Fahrtwind fängt dein Körper an zu kochen, du
mußt ihn mit Wasser kühlen. Du versuchst, ruhig anzulaufen, damit
sich die Muskulatur an die andere Belastung gewöhnt."
Hellriegel braucht keine zehn Kilometer, um zu Zack
aufzuschließen. Fünf, sechs Kilometer laufen sie nebeneinander
her.
„Die Schmerzen nehmen zu, durch die Erschütterung, durch den
ständigen Aufprall der Füße auf dem Asphalt, du bist total
verspannt, steif, und irgendwann ist es nur noch der Kopf, der
dich vorwärtsbringt. "
Bei Kilometer fünfzehn greift Hellriegel an.
„Ich habe das Tempo forciert, um zu sehen, ob er mitgehen kann,
und dann bin ich relativ schnell weggekommen. Euphorie? Wenn du
merkst, daß der andere nicht mitkommt, spürst du ein
Triumphgefühl, dann wenden sich die Gefühle ins extrem Positive,
aber das hält nicht lange."
Und nun läuft Hellriegel wie in den beiden Jahren zuvor wieder
allein in Richtung Kailua-Kona.
„Eigentlich bin ich nicht mehr in Bedrängnis gekommen, aber ich
hatte nach den letzten beiden Jahren eine riesige Angst, es könnte
mich wieder einer überholen. Dann, zwei Kilometer vor dem Ziel,
hat mir ein Zuschauer eine deutsche Fahne in die Hand gedrückt.
Ich war so müde, es hat so weh getan in den Beinen und am Arm, ich
wollte die Fahne wieder weglegen, aber ich habe sie doch behalten.
Die letzten hundert Meter sind die Schmerzen weg, dann spürst du
nichts mehr, dann bist du am Ziel der Träume. Deshalb habe ich mit
Triathlon angefangen, deshalb habe ich jahrelang trainiert, für
diese zehn, zwanzig Sekunden. Kurz vor der
Ziellinie habe ich mich noch einmal umgedreht - und keiner war
da."
Nach acht Stunden, dreiunddreißig Minuten und einer Sekunde ist
Hellriegel am Ziel, aber er sieht nicht aus wie einer, der sich
seinen Traum erfüllt hat. Er ballt die Faust, als er über die
Ziellinie geht, eine fast hilflose Geste, kein Überschwang, kein
Pathos - das große Glück liegt verschüttet unter einem Berg von
Erschöpfung. Als später Chris Legh angewankt kommt, der Australier
aus Hellriegels Radgruppe, liefert er einen Eindruck, wie hoch
dieser Berg sein kann. Legh bricht auf der Zielgeraden wegen einer
Sauerstoffunterversorgung zusammen - als wäre er ein Bergsteiger
kurz vor dem Gipfel des Mount Everest. In einer Notoperation wird
man ihm später sechzehn Zentimeter Darm herausschneiden.
Hellriegel bekommt das Drama um den Konkurrenten nicht mit. Er hat
genug mit sich selbst zu tun.
„Du bist so geschwächt, so müde - und so froh, daß es vorbei
ist. Du bist glücklich und kaputt, der Körper ist leer. Und du
kannst es nicht fassen. Ist es tatsächlich passiert? Ich war nicht
sicher, ob alles wahr ist, ob das die Realität ist, man braucht
Zeit, um alles zu ordnen. Es war ein langer Tag, und wenn du jetzt
fünf Minuten stehst, kommst du kaum noch vom Fleck. Der Körper
fährt herunter, und auch der Kopf braucht Zeit."
Die ersten Interviews. Hellriegel berichtet vom „schwersten
Rennen" seines Lebens, eine Stunde liegt er im Sanitätszelt, ehe
er zur Dopingkontrolle gerufen wird, dann muß er sich im Hotel
wieder hinlegen. 35 000 Dollar Siegprämie hat ihm das Rennen
gebracht, nicht viel für all die Strapazen, aber er hat mehr gewonnen. Er ist der erste - und bis heute einzige
- deutsche Sieger
auf Hawaii. Das wird sich auszahlen in den nächsten Jahren. Am Tag
darauf, bei der Siegerehrung vor dreitausend Zuschauern, tritt er
mit Blumenkränzen geschmückt auf die Bühne. Noch immer wirkt er
müde, aber dann blitzt der Stolz aus seinen Augen, als er zum
Mikrophon greift und ein paar Worte spricht:
„Für mich ist ein Traum wahr geworden. Ich habe mit Triathlon
begonnen wegen Hawaii, und alles, was ich wollte, war, dieses
Rennen zu gewinnen. Ich möchte noch alle Athleten beglückwünschen,
die es gestern ins Ziel geschafft haben. Es war ein sehr, sehr
hartes Rennen. "
Hellriegel fliegt zurück nach Frankfurt. Büchenau. Aus der Hitze
Hawaiis in den deutschen Spätherbst, in den deutschen Winter. Er
ist oft krank.
„Ich war so dünn. Als ich zurück war in Deutschland, habe ich
ständig gefroren, das ganze Jahr war sehr grenzwertig - aber es
hat sich gelohnt."
© von
Michael Eder, FAZ vom 10.04.04
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Foto: Triathlon-TEAM
Witten


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