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Wer vor gut zwanzig Jahren joggend
durch die Gegend zog, erntete regelmäßig mildes Kopfschütteln und
belustigt-spöttische Rufe wie „Hopp-hopp",
„Eins-zwei" oder „Tempo-Tempo".
Ein Läufer wirkte komisch bis befremdlich - nur Kinder rennen. Heute
gehören Jogger genauso zum Feld-, Wald-
und Stadtbild wie Spaziergänger oder Einkaufsbummler, die stets mit
einem Bein Bodenhaftung haben. Aber ein Rätsel sind sie wohl noch immer
für jeden, der niemals ohne die einzig triftigen Gründe namens Flucht
und Zeitnot zu traben beginnt. Was bringt denn eine sonst ganz normal
aussehende Frau dazu, sich auf offener Straße mit schnellen Schritten
leicht springend fortzubewegen, obwohl sie nicht verfolgt wird oder
fürchten muß, anders ihren Zug zu verpassen? Warum verläßt der Mann
in gehobener Stellung, den man eigentlich als seriösen Nachbarn
kennengelernt hat, seit kurzem Morgen für Morgen ohne erkennbaren Zweck
bei jedem Wetter fast hüpfend sein Haus, um dann vierzig Minuten
später verschwitzt und mit einem Anfing
debil-seligen Lächelns zurückzukehren? Er könnte doch gleich
gebührlich zum Mercedes schreiten und zur Arbeit fahren. Aber nein, er
joggt erst einmal.
Heute verfallen Millionen und
Abermillionen so oft es geht in jene fast fliegende Gangart, bei der
immer wieder beide Füße in der Luft sind. Sie laufen und scheinen doch
weder vor jemandem oder etwas zu flüchten noch zu fürchten, zu spät
zu kommen. Warum aber dann? Sind sie große Kinder, laufen sie vor Lust
und aus Lust? Oder schnellen auch sie nur deshalb, um dem oder jenem zu
entkommen und dies und das zu bekommen?
Läuft die bewegte Gattung etwa panisch
ihrer Angst davon, manisch Gesundheit und Fitness entgegen? Wer
Selbstläufer ist, mit Joggern spricht,
das Internet konsultiert oder sich durch die manchmal etwas
euphorischen, stets aber motivierenden Bücher von medizinischen und
nichtmedizinischen „Laufpäpsten" gearbeitet hat, weiß, daß
regelmäßiges Laufen, zumal das aerobe, das ent-spannt-schnauflose,
höchst sinnvoll ist, oft gar als wahres Wundermittel gilt. Immer mehr
Ärzte bestätigen die Nützlichkeit - wenn auch meist mit dem nötigen
„Wenn und Aber". Kaum ein Körperteil, der nicht profitiert, kaum
eine Krankheit, der nicht vorgebeugt oder gar abgeholfen wird. Die
Hirndurchblutung steigt, das Gewicht fällt, Streß nimmt ab, Power
zu. Herz, Lunge, Kreislauf, Stoffwechsel, Blutdruck, Cholesterinspiegel,
Gelenke, Muskeln, Augen, Gewebe, Immunsystem erfahren wohltuende
Wirkungen. Arthrose, Osteoporose,
Diabetes, Rhythmusstörungen, Krampfadern, Migräne, Schlaflosigkeit,
Verdauungsbeschwerden, Depressionen und manch anderes Übel soll man
laufend bessern können. Abnehmende Belastbarkeit? Jog-ging!
Zunehmende Entscheidungsschwäche? Jogging!
Work-Life-Balance gestört? Jogging!
Selbstmanagement geschwächt? Jogging! Burn-out-Syndrom?
Jogging! Überfordert, lustlos, mißmutig, schlaflos, gereizt, matt,
früh gealtert? Jogging! Leben Langläufer gar länger? Jedenfalls
länger besser. Laufen scheint, zeitgemäß gesagt, ein „Must-be
für Well-being" zu sein.
Verheißungen ohne Ende - erfüllen sie
sich? Überreich, sagen die einen. Nie im Leben, die anderen. Die einen
sind meist selbst Läufer, die anderen meist nicht. Man muß es
ausprobieren - just do it -,
dann weiß man Bescheid. Man muß nicht Coachee
werden, braucht keinen Personal Trainer, keinen Feedbackgeber,
keine teuren Workshops und Seminare,
keine Laufstilanalyse per Video, keinen Verein, kein Studio, keinen
Sportplatz und keine Geräte, noch nicht einmal einen Walkman.
Man muß keine komplizierte Technik erlernen, sondern lediglich üben,
was man als Kind schon konnte. Laufen ist fundamental einfach, auch wenn
es viel trendiges Drumherum gibt. Man braucht nur den Entschluß, das Placet
des Arztes, gute Joggingschuhe und
eine intelligente Anleitung, die vor Übertreibung schützt. Dann los,
locker, leicht, maßvoll. Selbst chronische Couch potatoes
werden sich bald gesünder fühlen.
Und doch erklären all die
sanitären Versprechungen und Erfüllungen wohl nicht allein, warum so
viele Menschen nicht nur zu laufen beginnen, sondern auch dabeibleiben.
Ginge es nur um Therapie, würden viele Jogger wieder aufhören, sobald
sich das Befinden gebessert hat. Sie setzten das Laufen ab wie eine
Arznei, sobald sie geholfen hat. Da ist noch etwas anderes, und hier
liegt des Rätsels Lösung, warum einer läuft und läuft, obwohl er
weder fliehen oder Angst haben muß, etwas zu verpassen, sei es
Gesundheit, sei es Leistungskraft. Oder?
Es sei diese von Erfahrungen und
Berichten gestützte Hypothese gewagt: Der Jogger läuft und läßt es
nicht mehr, weil Laufen vor allem - er hat es schon nach den ersten
Runden gespürt - Freude, Lust und Leben ist. Er genießt das Laufen als
Laufen, so wie ein Kind, und er genießt, was er nur laufend erfährt:
wie Mißmut verdunstet, Gedanken frei fliegen, Probleme sich lösen,
Unscheinbares bezaubert, Alltägliches zur Sensation
wird, wie die Welt in ihm und um ihn allmählich anhebt zu singen, zu
leuchten, zu lachen, zu strömen. Das also ist des Joggens
Kern. Oder?
Vom Glück des Laufens erzählt
jeder anders, jeder erlebt sein eigenes Glück. Jeder Lauf ist eine
Reise, ein Abenteuer, ein Film - wie man will. Kürzlich morgens etwa:
Warmen Regen gekostet, glänzenden Asphalt so schön gefunden, jungen
Roggen erstmals beachtet, das Gelb der Rapsfelder eingesogen, gute Idee
gehabt, über kreuzende Wildschweinfamilie gelacht, reizende Erinnerung
betrachtet, weichen Nadelboden im Fichtenwald genossen, Problem gelöst,
staunend gesehen, wie der Hase läuft. Außerdem der naß-grün
schimmernde Buchenhain, die phantasiebelebenden Hügelgräber, der
allmählich wachsende Kirchturm, die fröhlich wogenden Walkerinnen, die
außerordentliche Lust, seine Beine nicht mehr zu spüren,
aufschießende Wellen von Wohlgefühl und schließlich das minutenlang
mitfliegende Rotkehlchen, von Baum zu Baum, in niedriger Höhe, immer
ein kleines Stück voraus. „Na, du",
ruft der Jogger ihm unwillkürlich zu. Er ist ein bißchen high.
Von Roggen bis Rotkehlchen: Beim Laufen
gewinnt alles gesteigerte Intensität, jedenfalls war es so in diesem
Film. Ist es in den Millionen anderen Laufreisen der Millionen anderen
Läufer bei anderen Inhalten - vielleicht weniger romantisch-versponnen
- ähnlich? Stimmen die Vermutungen? Ist Laufen Lebenskunst? Ja,
wahrscheinlich. Nicht ohne Grund wächst das Heer der Jogger. Oder
handelt es sich bei der Bewegung, schrecklicher Gedanke, doch um nichts
als eine grassierende Fitness-Epidemie? Vielleicht kommt beim nächsten
Lauf die endgültige Erleuchtung.
©
Michael Fritzen, FAZ
05.06.03
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Laufen
macht fröhlich ...
(Bruno B., 66,
beim Köln-Marathon 2002)

...
in jedem Alter ...
(Schüler beim Start in
Bochum-Laer, Ümminger See) 
...
und
macht stark!
(Dunja R. demonstriert
Frauen-Power vor dem
Lauf um den Kemnader See
in Bochum) (Fotos:
Jörg Purat u. Uli Sauer) Lauf-Infos
auf der Link-Seite
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