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ATHEN. Susann Schützel ist nicht leicht zu beeindrucken. Nicht nur
gewann sie, ruckzuck, alle ihre Kämpfe im Judowettbewerb der Paralympics
vorzeitig. Selbst als die 26 Jahre alte Berlinerin im Finale dadurch
gesiegt hatte, daß sie ihre französische Gegnerin Sandrine Auriers in
einen Haltegriff bekam, blieb sie in Glück und Freude doch gelassen. Was
sie denn dazu sage, daß Bundes-präsident Horst Köhler ihren Kampf
miterlebt habe, wurde die sehbehinderte Kämpferin gefragt. „Es ist
schön, wenn man mal Zuschauer hat", antwortete sie.
Der erste Mann im Staate, der wie selbstverständ-lich seinem
Besuch bei den Olympischen Spielen eine Visite bei den Spielen der
Behinderten an diesem Wochenende folgen ließ, war offensichtlich mehr
beeindruckt. Nachdem er Susann Schützel bei der Siegerehrung, die er am
Samstag nachmittag in der Ano-Liossia-Halle vornahm, die Goldmedaille
umge-hängt und den Olivenkranz aufgesetzt hatte, küßte er sie auf beide
Wangen. Und dann ließ er, als ob er sie gleich umarmen wollte, seine
Hände an ihren Armen herabgleiten, bis er ihre Hände drücken konn-
te. Das Protokoll gebot, daß er dann zurücktrat.
Die kleine Geste stand für die große Hinwendung des
Bundespräsidenten zum Sport und zu dem der Behinderten insbesondere.
Ulrike Köhler, die Tochter des Präsidenten und seiner Frau, ist als
Jugendliche an der unheilbaren Krankheit Retino-pathia pigmentosa
erblindet. Seitdem weiß Köhler, wie schwer der Kampf um Normalität sein
kann. Ihn beeindruckt, wer sein Schicksal überwindet und in dieser
Situation Spitzenleistung bringt. „Dabeisein ist wichtig", sagte Köhler
über die deutsche Delegation in Athen. „Aber mir gefällt auch, daß sie
Sieger sein wollen." Behindertensportler sind für ihn Beispiele. Susann
Schützel etwa. An der Universität Leipzig studiert sie Sozialwesen, am
Olympiastützpunkt Leipzig trainiert sie, und für den Judoclub 90 aus
Frankfurt an der Oder startet sie. „Ich trainiere immer mit Sehenden",
sagt sie. „Bei den Olympi-schen Spielen hätte ich keine Chance. Aber in
der zweiten Bundesliga kann ich gut mithalten." Die zupackende junge
Frau steht dafür, die Welt nicht allein den Gesunden und Schönen zu
überlassen, wie Köhler es ausdrückt.
Als Verbündeter der körperbehinderten Athleten zeigte sich der
Präsident nicht nur bei den Wettbewerben im Judo und
Rollstuhlbasketball, beim Radrennen und Tischtennis. Auch als er das
Olympische Dorf besuchte und in der Mensa mit Mitgliedern der deutschen
Mannschaft zu Mittag aß, als er den Vorsitzenden des Internationalen
Pa-ralympics-Komitee, Phil Craven, und den im Internationalen
Olympischen Komitee (IOC) für Behindertensport zuständigen Walther
Tröger traf, ergriff er Partei für die Athleten mit Handicaps. Er sei
froh, daß die Paralympics Teil der olympischen Bewegung seien, sagte
Köhler. Man darf gewiß sein, daß er daraus auch Verpflichtungen
ableitet. Nach einem Scherz klang es jedenfalls nicht, als er im Büro
der deutschen Delegation mit der Bemerkung für großes Hallo sorgte, das
IOC solle seine Kasse öffnen für die Behinderten.
IOC-Mitglied Walther Tröger würde Schwung und Offensivgeist des
Bundespräsidenten unterschätzen, wenn er glaubte, dieser informiere sich
zur Zeit unverbindlich, um später Prioritäten zu setzen. Köhler reicht
es nicht, sich wie bei der Eröffnungs-feier unter die gekrönten Häupter
Europas zu mischen - Königin Silvia von Schweden, Königin Sophia von
Spanien und Königin Margarethe von Dänemark sowie der ehemalige König
Konstantin von Griechenland waren gekommen - und die Athleten mit seiner
präsidialen Anwesenheit zu erfreuen. Er mischt sich engagiert ein und
fragt geradezu bohrend nach, wo es hakt. „Er hat uns gebeten zu
schreiben, wenn wir ein Anliegen haben", sagte der
Hand-Biker Florian Sitzmann über seine über-raschende
Begegnung mit dem Staatsoberhaupt beim Mittagessen. Der 28 Jahre alte
Hüne aus Darmstadt, der als Sechzehnjähriger bei einem Motorradunfall
beide Beine verlor, hat beim Trainingsaufwand schon längst die Schwelle
vom Amateur- zum Profisport überschritten und kann doch nicht von seinem
Sport leben. Von Startern aus Ländern des Ostens hörte er, daß ihnen für
den Falle eines Sieges 25 000 Büro versprochen sind. Er bekam 700 Büro
Prämie, als er Zweiter der Weltmeisterschaft wurde. „Ich würde mir für
uns Leistungssportler eine angemessene Förderung wünschen", sagt
Sitzmann.
Köhler hat ihn, wie alle anderen, aufgefordert, sich bei
Schwierigkeiten an ihn zu wenden. „Er hat versprochen, daß die Briefe
nicht in den Mülleimer fliegen." Über die erste Visite eines
Bundespräsi-denten freut sich Theodor Zühlsdorf, erster Mann des
Deutschen Behindertensportverbandes: „Das ist sagenhaft. Das gibt uns
einen Schub, auf den wir sonst Jahre hätten warten müssen." Dank der
Anwesenheit von Köhler brachten es die Goldmedaillengwinner Susann
Schützel und Michael Teuber in die Tagesschau. Am kommenden Wochenende
wird Gerhard Schröder in Athen erwartet. Der Bundeskanzler besucht als
erster ausländischer Regierungschef die Paralympics.
©
Michael Reinsch, FAZ
20.09.2004
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Susann Schützel
(Foto: bjv-judo.de)
Links:
www.paralympics.de
Dt. Behindertensport-Verband
www.paralympic.org
Intern. Paralympic Committee
http://www.athens2004.com/en
Paralympic Games 2004
http://www.bjv-judo.de
Brandenburgischer Judo-Verband
http://www.judobund.de
Deutscher Judobund
http://www.handbike.de
Handbike Racing Team
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