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Artikel von © Michael Reinsch, FAZ vom 28.09.02

Mit getuntem Rollstuhl den Temporausch erleben
In der Formel 1 des Marathons wird gerast und geschleudert - 
aber sie dient auch der Integration

BERLIN. ,,Ich muß meinen Geschwindigkeitsrausch nicht beim Autofahren ausleben", sagt Heinz Frei. Er erlebt ihn dennoch auf der Straße. ,,Bei dreißig, vierzig Stundenkilometern. Bergab schaffe ich bis zu sechzig, siebzig." Frei fährt Rennen. Er ist Favorit des Berlin-Marathons am Sonntag.

Die Athleten im Rollstuhl sind fünfzig Minuten schneller als die besten Marathonläufer; natürlich nur die besten von ihnen. Frei ist der Schnellste. Den Marathon von Oita in Japan brachte er in 1:20,14 Stunden hinter sich: Weltbestzeit. Über achtzig Marathons hat der Vierundvierzigjährige schon gewonnen und zwölf Goldmedaillen bei den Paralympics. Im Jahr fährt er etwa 10000 Kilometer im Rollstuhl. ,,Man kann ihn mit Eddy Merckx in seiner Sportart vergleichen", sagt Günter Pilz, der in Berlin für das Rennen der Rollstuhlfahrer verantwortlich ist. Doch Frei ist eigentlich eher wie Michael Schumacher: der überlegene Fahrer der Formel 1 des Marathons.

In einem Spezialrollstuhl mit Langsitz, drei Rädern und schräg gestellten Rennrad-Rädern jagt er über die Strecke. Rund 5000 Euro ist diese Spezialanfertigung aus Leichtmetall wert, und wenn sie zu sehr getunt und abgespeckt wird, dann zerbricht sie auch schon mal, wie es Frei im vergangenen Jahr im 10000-Meter-Rennen der Europameisterschaft geschah. ,,Da bin ich böse auf den Helm gefallen", erinnert er sich. ,,Vielleicht war das Tragrohr zu dünn."

Dafür ist der Antrieb mächtig: die Muskulatur in den Oberarmen der Rennfahrer. ,,Regen wäre schrecklich. Dann wäre die Traktion nicht mehr da", fürchtet Pilz. Er meint nicht die Haftung der Reifen, die durch ihre schräge Stellung erlauben, die Antriebsschläge bis weit unten zu treiben, ohne an die Lauffläche anzustoßen. Pilz spricht vom Antrieb. Mit Urgewalt schlagen die Rennfahrer von oben auf die Greifreifen der Räder, um sie anzutreiben. Frei hat sich Spezialhandschuhe aus Hartplastik geformt. Mit Haftstreifen bindet er sie sich an die schwieligen Hände; auf die Greifreifen der Räder hat er Neoprenschläuche gezogen. Regnet es, tragen die Rennfahrer klebriges Harz auf. Frei hat einen speziellen Trick: Er nimmt rauhe Schmirgelscheiben, um seine Kraft auf die Reifen zu bekommen.

,,Wenn man aus so einem AOK-Chopper in einen Rennstuhl steigt, bekommt man ein begeisterndes Gefühl der Geschwindigkeit", schwärmt Pilz. Er wird am Sonntag 121 Rollstuhl-Rennfahrer auf die Strecke bringen. Für manche von ihnen wird es ein Genuß sein. Rollstuhle rasen, rumpeln, bremsen mit blockierten Rädern. Sie können sogar in glitschigen Kurven schleudern wie ein Auto. Eher verwandeln sie sich aber in einen Schleudersitz, wenn sie etwa mit dem Vorderrad in einen Gully geraten, steckenbleiben und abheben. Wenn's zu schnell um die Kurve geht und das Innenrad abhebt, wird aus dem Renn- ein Kippstuhl. ,,Dann hange ich mich, wie der Schmiermaxe in einem Beiwagen, in die Kurve hinein", erzählt Frei.

,,Die Pneus", sagt der Schweizer, ,,sind effektiv ein Poker." Nimmt er robuste Reifen mit Schlauch, kommt er zwar sicher durch, dürfte aber nicht der Schnellste sein. Also sind seine erste Option für Sonntag Bahnreifen aus Seide, die lediglich 150 Gramm wiegen und mit zwölf bis dreizehn Atmosphären aufgepumpt werden. Der Rollwiderstand ist so gering, daß sie eine Tempoverbesserung von zwei bis drei Prozent bringen, schatzt Frei. Aber sie sind so empfindlich, daß schon ein spitzer Stein genügen kann, das Rennen zu beenden. Hopp oder topp. ,,Ich muß das mitmachen, wenn alle Favoriten am Start sind", sagt der Rennfahrer. ,,Sie gehen das Risiko auch ein."

Die technische Entwicklung hat auch die Rennfahrer erfaßt. ,,Man setzt sich als Paket rein", erläutert Pilz. ,,Deswegen wird ein Nichtbehinderter nie eine Chance haben in diesem Wettbewerb." Querschnittgelähmte setzen sich auf ihre Beine und bekommen das Gewicht so kompakt auf die Hinterachse. ,,Beste Voraussetzungen haben", und da zögert Pilz kurz, weil er weiß, daß es makaber klingt, was er sagt, ,,beste Voraussetzungen haben beidseitig Unterschenkelamputierte." Sie sitzen am tiefsten.

Der von der Brust ab querschnittgelähmte Frei spricht tatsächlich von einem Handicap, das er gegenüber anderen Rollstuhl-Racern habe. Er nimmt die Knie vor die Brust. Nur so kann er sich nach vorn abstützen, denn er verfügt durch die verhältnismäßig hoch einsetzende Lähmung über keine Rückenmuskulatur. Doch den Nachteil hat er bisher meist wettgemacht. Am Sonntag startet er, wie üblich, von der Pole Position in der Mitte der ersten Reihe. Sie wird nach der Weltbestenliste vergeben. Frei wird vom Start weg spurten. ..Die erste Kurve kann das Rennen entscheiden, wenn es dort einen Crash gibt", sagt er und lacht. ..Wenn's hinten scheppert, heißt es: Kopf runter und weiter!"

Ludwig Guttmann, der vor den Nazis aus Deutschland geflohene Arzt, der in Stoke-Mandeville in England Sport im Rollstuhl für an der Wirbelsäule geschädigte Patienten etablierte und als Vater der Paralympics gilt, plädierte dafür, Sport in dem Rollstuhl zu treiben, den man auch im Alltag benutzt. Ihm kam es darauf an, Sicherheit und Selbstbewußtsein für das tägliche Leben zu vermitteln. Darüber sind die Rollstuhl-Rennfahrer längst hinaus. ,,Ich verstehe die Haltung von Guttmann als Arzt", sagt Pilz. ,,Aber man muß das als Mensch sehen: Wer seine Leistungsfähigkeit ausschöpfen will, läuft den Marathon ja auch nicht in Pantoffeln."

So schön die Geschwindigkeit ist, sie ist doch nicht das Schönste am Rollstuhl-Rennen. ,,Wir sind nicht darauf angewiesen, daß die Leute zu uns kommen", sagt Frei, der seit einem Sturz beim Berglauf gelähmt ist. ,,Wir gehen zu den Leuten. Es ist schön, sich wieder in die Familie der Leichtathleten zu integrieren."

© MICHAEL REINSCH, FAZ 28.09.02 

 

 

 

 

 


Foto: coara.org.jp

 

 

 


Foto: logic.it

 

 

 


Foto: lindemann.ch


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