BERLIN.
,,Ich muß meinen Geschwindigkeitsrausch
nicht beim
Autofahren ausleben",
sagt Heinz
Frei. Er erlebt
ihn dennoch auf
der Straße.
,,Bei dreißig, vierzig
Stundenkilometern. Bergab schaffe
ich bis zu
sechzig, siebzig."
Frei fährt Rennen. Er ist
Favorit des
Berlin-Marathons am Sonntag.
Die
Athleten im
Rollstuhl sind
fünfzig Minuten schneller
als die besten
Marathonläufer; natürlich
nur die besten von
ihnen. Frei ist der Schnellste.
Den Marathon von Oita in Japan brachte
er in 1:20,14 Stunden
hinter sich: Weltbestzeit.
Über achtzig
Marathons hat der Vierundvierzigjährige
schon gewonnen und
zwölf Goldmedaillen bei den Paralympics.
Im Jahr fährt er etwa
10000 Kilometer im Rollstuhl. ,,Man kann
ihn mit Eddy Merckx
in seiner Sportart vergleichen",
sagt Günter Pilz,
der in Berlin für das Rennen der Rollstuhlfahrer
verantwortlich ist. Doch
Frei ist eigentlich eher
wie Michael Schumacher: der überlegene
Fahrer der Formel 1 des Marathons.
In
einem Spezialrollstuhl
mit Langsitz, drei Rädern und schräg
gestellten Rennrad-Rädern
jagt er über die Strecke.
Rund 5000 Euro
ist diese Spezialanfertigung
aus Leichtmetall wert,
und wenn sie
zu sehr getunt
und abgespeckt wird,
dann zerbricht
sie auch schon mal,
wie es Frei im vergangenen
Jahr im 10000-Meter-Rennen der Europameisterschaft
geschah. ,,Da
bin ich böse auf den Helm gefallen",
erinnert er sich. ,,Vielleicht
war das Tragrohr zu dünn."
Dafür
ist der Antrieb mächtig:
die Muskulatur in den Oberarmen
der Rennfahrer. ,,Regen wäre schrecklich.
Dann wäre die Traktion nicht mehr
da", fürchtet Pilz. Er meint
nicht die Haftung der Reifen,
die durch ihre
schräge Stellung
erlauben, die Antriebsschläge
bis weit unten
zu treiben, ohne an die Lauffläche
anzustoßen. Pilz spricht
vom Antrieb. Mit Urgewalt
schlagen die Rennfahrer von oben
auf die Greifreifen der Räder,
um sie anzutreiben.
Frei hat sich Spezialhandschuhe aus Hartplastik
geformt. Mit Haftstreifen bindet
er sie sich an die schwieligen Hände;
auf die Greifreifen der Räder
hat er Neoprenschläuche gezogen.
Regnet es, tragen
die Rennfahrer klebriges Harz
auf. Frei hat einen speziellen
Trick: Er nimmt rauhe
Schmirgelscheiben, um seine Kraft
auf die Reifen zu bekommen.
,,Wenn
man aus so einem AOK-Chopper in einen Rennstuhl
steigt, bekommt
man ein begeisterndes
Gefühl der Geschwindigkeit",
schwärmt Pilz. Er wird am Sonntag
121 Rollstuhl-Rennfahrer auf die
Strecke bringen. Für manche
von ihnen wird es ein Genuß sein.
Rollstuhle rasen,
rumpeln, bremsen mit blockierten
Rädern. Sie können sogar
in glitschigen Kurven
schleudern wie ein Auto. Eher verwandeln
sie sich aber in einen Schleudersitz,
wenn sie etwa mit dem Vorderrad
in einen Gully geraten, steckenbleiben
und abheben. Wenn's
zu schnell um die Kurve
geht und das Innenrad
abhebt, wird aus dem Renn-
ein Kippstuhl. ,,Dann hange
ich mich, wie der Schmiermaxe
in einem Beiwagen, in die Kurve hinein",
erzählt Frei.
,,Die
Pneus", sagt der Schweizer,
,,sind effektiv
ein Poker." Nimmt er robuste Reifen
mit Schlauch, kommt
er zwar sicher
durch, dürfte aber nicht der Schnellste
sein. Also sind seine erste Option für
Sonntag Bahnreifen aus Seide,
die lediglich 150 Gramm
wiegen und mit zwölf bis dreizehn Atmosphären
aufgepumpt werden.
Der Rollwiderstand ist so gering,
daß sie eine
Tempoverbesserung von zwei
bis drei Prozent bringen, schatzt
Frei. Aber sie sind so empfindlich, daß
schon ein spitzer Stein genügen
kann, das Rennen zu beenden. Hopp
oder topp. ,,Ich
muß das mitmachen,
wenn alle Favoriten am Start sind",
sagt der Rennfahrer. ,,Sie gehen das Risiko
auch ein."
Die
technische Entwicklung
hat auch die Rennfahrer erfaßt. ,,Man
setzt sich als Paket
rein", erläutert Pilz. ,,Deswegen
wird ein Nichtbehinderter nie
eine Chance haben in diesem
Wettbewerb." Querschnittgelähmte
setzen sich auf ihre Beine
und bekommen das Gewicht
so kompakt auf die Hinterachse.
,,Beste Voraussetzungen haben",
und da zögert Pilz kurz,
weil er weiß, daß es makaber
klingt, was er sagt, ,,beste
Voraussetzungen haben beidseitig
Unterschenkelamputierte." Sie sitzen
am tiefsten.
Der
von der Brust ab
querschnittgelähmte Frei spricht tatsächlich
von einem Handicap, das er gegenüber anderen
Rollstuhl-Racern habe.
Er nimmt die Knie vor
die Brust. Nur so kann er sich nach vorn
abstützen, denn
er verfügt durch die verhältnismäßig
hoch einsetzende
Lähmung über keine
Rückenmuskulatur. Doch den Nachteil
hat er bisher meist
wettgemacht. Am Sonntag startet
er, wie üblich, von der Pole Position
in der Mitte der ersten
Reihe. Sie wird nach der Weltbestenliste
vergeben. Frei wird vom Start weg
spurten. ..Die
erste Kurve kann das Rennen entscheiden,
wenn es dort einen Crash gibt",
sagt er und lacht. ..Wenn's hinten
scheppert, heißt
es: Kopf runter und weiter!"
Ludwig
Guttmann, der vor den Nazis aus Deutschland
geflohene Arzt,
der in Stoke-Mandeville in England Sport
im Rollstuhl für an der Wirbelsäule geschädigte
Patienten etablierte
und als Vater der Paralympics gilt, plädierte
dafür, Sport in dem Rollstuhl zu
treiben, den man auch im Alltag benutzt.
Ihm kam es
darauf an, Sicherheit
und Selbstbewußtsein für das tägliche
Leben zu vermitteln. Darüber
sind die Rollstuhl-Rennfahrer längst hinaus.
,,Ich verstehe die Haltung
von Guttmann als Arzt", sagt Pilz. ,,Aber man muß das als Mensch
sehen: Wer seine Leistungsfähigkeit
ausschöpfen will, läuft
den Marathon ja auch nicht in Pantoffeln."
So
schön die Geschwindigkeit ist, sie ist doch
nicht das Schönste am Rollstuhl-Rennen.
,,Wir sind nicht darauf angewiesen,
daß die Leute zu uns
kommen", sagt Frei, der seit
einem Sturz beim
Berglauf gelähmt
ist. ,,Wir gehen zu den Leuten.
Es ist schön, sich wieder in die Familie
der Leichtathleten zu integrieren."
©
MICHAEL
REINSCH,
FAZ 28.09.02
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