FRANKFURT,
1. November. Mit dem Song von Leonard Cohen
"First we take
Manhattan ..." hat es am Sonntag
eine besondere Bewandtnis. Tausende würden sich wünschen, sie wären
schon dort. Doch für den New York City Marathon
gilt nun mal: Last we take Manhattan - und manchmal nicht einmal das.
Denn zwischen dem Start von Staten Island
auf der Verrazano Bridge und dem Ziel im Central
Park von Manhattan liegen 42,195
kraftzehrende Kilometer voller Überraschungen. Schritt für Schritt
lauern Muskelkrämpfe, Seitenstechen, , Knieschmerzen
oder andere Bösartigkeiten, die zum Aussteigen zwingen könnten. Und
trotzdem nehmen immer mehr Menschen jede Strapaze auf sich, unterwerfen
sich rigiden Trainingsplänen, bei denen sie nicht selten ein
Wochenpensum von 60 bis 80 Kilometern absolvieren. Selbst der Urlaub gehört
dem Hobby: Spezialagenturen bieten Marathonreisen
in die ganzen Welt an, von Honolulu über Südafrika bis nach Stockholm,
London oder eben New York.
Laufen
kann süchtig machen. Der Kölner Immunologe Gerhard Uhlenbruck,
von dem gesagt wird, er gehöre zum Laufen wie der Schuh, und der es in
seinem Leben auf 36 Marathons brachte,
sagt: "Auf einmal war ich drauf, hing wie an der Nadel." Der 1929
geborene Wissenschaftler ließ sich 1970 erstmals auf das 42-Kilometer-Aben-teuer
durch den Kölner Stadtwald ein. Damals standen bestenfalls Angehörige
im Ziel, oder man schickte einen Freund an eine bestimmte Stelle, um
Getränke zu reichen: "Ansonsten haben uns nur ein paar Vögel verständnislos
zugeguckt." Marathonläufen war eine
einsame Sache. Der Boom setzte erst in den siebziger Jahren
mit
den Rennen durch die Straßen der Städte ein. "Die Atmosphäre ist
doch eine völlig andere, wenn nicht nur Bäume da stehen, sondern
Tausende Menschen einem applaudieren." Breitensportler Reinhard Bardtke,
der 1989 in New York dabei war, schwärmt noch heute vom Enthusiasmus
des amerikanischen Publikums. Viele Zuschauer wollten abgeklatscht
werden, riefen "give me
a touch". Nicht recht erklären
konnte sich Bardtke zunächst, warum sich um ihn herum immer wieder
Menschentrauben bildeten. Er war doch schließlich nicht berühmt. Dann
fiel ihm ein, daß auf seinem Trikot der Name seines Sportvereins stand:
MTV Kronberg. Viele dachten deshalb, er
sei vom Fernsehsender MTV.
Neugier,
sportlicher Ehrgeiz, Abenteuerlust und der Reiz von Grenzerfahrungen
treiben inzwischen die Massen in Funktionskleidung über den Asphalt. Ständig
kommen neue Stadtmarathons dazu, in diesem
Herbst hatte Münster seine Premiere. Jährlich melden die Veranstalter
neue Teilnehmerrekorde. Aus dem ersten Lauf in Berlin 1981 mit 3500
Teilnehmern sind inzwischen mehr als 40 000 geworden. Hamburg hat für
2003 ein Limit von 18 000 Läufern eingeführt. Am vergangenen Sonntag
gingen in Frankfurt gut 10 000 Läufer auf die Strecke. Anfang Oktober
bekamen die Veranstalter in Köln die 17 500 Läufer so schlecht in den
Griff, daß viele im hinteren Feld 40 Minuten im Regen stehen mußten,
bis sie endlich losdurften - von Anfang an klatschnaß.
New
York ist der spektakulärste Straßenlauf. Doch ohne sich einem
Reiseanbieter anzuschließen, der über ein Kontingent an Plätzen verfügt,
ist es schwierig, an eine der
begehrten
33 000 Startnummern zu kommen. Wie begierig ganz normale Bürger nach so
einer Berechtigung sind, haben Wissenschaftsredaktionen des Südwestrundfunks
Baden-Baden (SWR) und des Norddeutschen
Rundfunks (NDR) kürzlich erfahren. Sie wollen beweisen, daß jeder
gesunde Mensch es innerhalb eines Jahres "von Null auf 42"
bringen kann. Kaum war publik, daß am
Ende der Vorbereitungszeit "New York" stehe, meldeten sich 20000
Leute. Sechs werden ausgewählt. Der medizinische und trainingswissenschaftliche
Betreuer des Projekts, Thomas Wessinghage,
attestiert der Strecke eine "unschlagbare Dramaturgie". Die Manhattan-Skyline,
Ziel und Sinnbild der kapitalistischen Gesellschaft, habe man immer
wieder von allen zu durchlaufenden Stadtteilen aus im Blick. Nähere man
sich endlich dem Central Park, sei man zwar bald am Ziel, aber im
ansteigenden Parkgelände wird es noch einmal schwer. Der ehemalige 5000-Meter-Europameister
und heutige Ärztliche Leiter der Rehabilitationsklinik Damp
und des Deutschen Zentrums für Präventivmedizin Damp, wird am Sonntag
selbst zum dritten Mal dabei sei - mit Digitalkamera, um daraus ein Buch
zu machen.
Für
die Begeisterung gibt es viele Erklärungen. Zu ein paar Außenseitern
seien Leitfiguren gekommen, sagt Wessinghage. Etwa Außenminister
Fischer: 1998, eine Woche nach seinem fünfzigsten Geburtstag, passierte
er bei seinem ersten Marathon in Hamburg nach drei Stunden und 41
Minuten die Ziellinie. Ein Marathon hat "Event"-Charakter.
Wer persönliche Erfolge anderswo nicht findet, der suche sie im
Ausdauersport, sagt Gerhard Uhlenbruck.
"Da
wird aus der Langeweile der Wohlstandsge- sellschaft herausgelaufen."
Wessinghage nennt es das Streben nach "dem großen Wir-Gefühl"
und vergleicht einen Marathon mit der Love-Parade.
"Man läuft miteinander gegen die selbe Strecke." Am Ende eine
Medaille umgehängt zu bekommen, bedeutet Selbstbestätigung und
Prestige. Selbst in Bewerbungen um eine neue Arbeitsstelle werde das
sportliche Hobby vermerkt: "Manche schreiben sogar ihre Bestzeiten
rein." Und was soll das dem Arbeitgeber sagen? Daß der Bewerber
zielstrebig ist und nicht so schnell aufgibt? Die Angabe der
Lieblingsbeschäftigung könnte auch die Vermutung aufkommen lassen, der
Bewerber vernachlässige berufliche
Pflichten. Für eine gute körperliche Verfassung spricht die Angabe auf
jeden Fall. Das Training ist gesundheitsfördernd. Der Wettbewerb selbst
habe hingegen keine positiven Auswirkungen auf den Organismus. "Man
kann nicht alles verlangen: ein Super-Erlebnis, Hochgefühle, und außerdem
muß es noch gesund sein."
Um
die Tortur schadlos zu überstehen sind ein gründlicher
sportmedizinischer Check, Kontrollunter- suchungen, ein Training mehrmals
wöchentlich und eine kritische Selbsteinschätzung unerläßlich.
Werden Einschränkungen gefunden, ist es trotzdem fast unmöglich, einen
Läufer vom Start abzuhalten. Der lange Lauf zu sich selbst, den viele
unternehmen, ist kaum mehr aufzuhalten: Zur Auswahl stehen inzwischen Ultramarathons
mit 100 Kilometern Länge und mehr. Oder ein Wüstenmarathon,
der etwa 240 Kilometer durch die Sahara führt - je nachdem, wie oft man
sich verläuft.
©
Brigitte
Roth,
FAZ 02.11.02
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New
York Marathon
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