BUCHENBERG. „Die Reise des jungen Che"
ist Helmut Schießls Lieblingsfilm. Fünfmal hat er den Streifen schon
gesehen. An der Wohnungstür hängt das Filmplakat. Es zeigt Che
Guevara, den späteren Freiheitskämpfer, wie er mit seinem Freund
Alberto Granado auf einer Norton 500 über südamerikanische
Schotterpisten jagt. „Am meisten fasziniert mich an Che seine
Konsequenz", sagt Helmut Schieß!, den die Regionalzeitung kürzlich
einen „Allgäuer Sturkopf" nannte. „Lieber ein Sturkopf als ein
DLV-Lakai", kontert Schießl.
Der Vierunddreißigjährige aus Buchenberg im Oberallgäu ist
amtierender Berglauf-Weltmeister. Wegen eines Streits mit dem
Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) wird er seinen Titel aber
nicht verteidigen, sondern fortan nur noch bei Volksläufen starten.
Die Funktionäre haben Schießl aus dem Nationalteam gestrichen, weil
er seine Anti-Doping-Pflichten verletzt hat. Dabei unterstellt ihm
niemand, unerlaubte Mittel einzunehmen. „Doping kostet viel Geld",
sagt Helmut Schießl. „Das können sich Bergläufer gar nicht leisten."
Fuzzy, wie ihn alle nennen, geht es ums Prinzip. Der Athlet mit der
Edelweiß-Tätowierung auf dem Oberarm hat laut der Bestimmungen der
Nationalen Anti-Doping-Agentur per Fax oder Telefon seinen momentanen
Aufenthaltsort durchzugeben, wenn er sich länger als 72 Stunden von
seinem Wohnort entfernt. Doch Schießl wollte die Kosten dafür nicht
tragen. Der Athlet nennt sein Verhalten „eine Provokation".
Seit Monaten schon schwelt der Konflikt zwischen Schießl und den
Verbandsfunktionären. Hintergrund ist die in sei-
nen Augen fehlende Anerkennung seiner Leistung durch den DLV. Wieder
und wieder habe er in Briefen um mehr Unterstützung gebeten, sei es
finanzieller oder ideeller Art. „Geantwortet hat mir nie jemand",
sagt Schießl und schiebt die Klarsichtmappe mit den vielen
Schriftstücken über den Küchentisch. „Als ich den Herren vom Verband
dann schrieb, ich werde meiner Meldepflicht nicht mehr nachkommen,
war klar, diesmal reagieren sie."
Inzwischen erklärt er sich bereit, die Anti-Doping-Richtlinien zu
erfüllen. Weil er ein reines Gewissen hat, aber auch, weil sein
Sponsor das wünscht und die entstehenden Kosten übernimmt. Für die
Nationalmannschaft will der Freigeist dennoch nicht mehr starten.
„Mir fehlt im Verband die Akzeptanz für den Berglaufsport." Und
außerdem müsse er betriebswirtschaftlich denken. Wegen der
Termin-überschneidungen sei es lukrativer, bei einem gut dotierten
Volkslauf statt für Deutschland - „und einen feuchten Händedruck" -
bei einer Meisterschaft anzutreten.
Seit dieser Saison schlägt er sich als Profi durch, reist mit einem
37 Jahre alten klapprigen Wohnwagen von Volkslauf zu Volkslauf und
sammelt in ganz Europa Preis- und Antrittsgelder. Heute Österreich,
nächste Woche Slowenien. „Reich wird man nicht. Aber ich kann davon
leben." 2000 Euro bei einem Start in der Steiermark war bisher die
größte Börse.
Lange hatte Schießl versucht, den harten Zimmermannsjob mit dem
Leistungssport zu vereinbaren. Quasi als Training war der Autodidakt,
der noch nie einen Betreuer an seiner Seite hatte, zu den Baustellen
gejoggt oder geradelt, während sich die Spitzenläufer anderer Länder
unter Profibedingungen auf die Wettkämpfe vorbereiteten. Helmut
Schießl rannte an Wochenenden 1500 Höhenmeter und mehr den
Großglockner, das Nebelhorn oder einen anderen Berggipfel hoch und
schleppte am Montag mit schweren Beinen wieder Holzbalken. Er hatte
Angst davor, die Lust am Laufen zu verlieren, wenn er sein Geld damit
verdienen müßte. Heute weiß er, die Vorbehalte waren unbegründet.
„Laufen im alpinen Gelände ist immer noch meine große Leidenschaft."
Schießl bezeichnet sich dabei als „Berglaufprofi-Tourist", weil ihm
sein neuer Beruf die Möglichkeit gibt, andere Länder und Menschen
kennenzulernen. So wie der junge Che. „Als ich noch Zimmermann war",
sagt der freiheitsliebende Bayer, „mußte ich gleich nach den Rennen
heimfahren. Jetzt ist das anders." Der Sport garantiert ihm die lang
ersehnte Unabhängigkeit, die keine Verbands-funktionäre schmälern
sollen. Ausgerechnet der Sport - das hätte sich Schießl als
Jugendlicher nicht träumen lassen. Damals, als er noch ein „Hallodri"
war. Einer, der bei jeder Party zu den Letzten gehörte, ordentlich
trank und rauchte. Bis er eines Tages mit dem Auto in eine
Polizeikontrolle geriet. Der Führerschein war weg. Fortan radelte der
bis dato überzeugte Antisportler zur Arbeit. Erst auf kürzestem Weg,
mit Pausen an jedem längeren Anstieg. Dann wurden richtige Radtouren
daraus. Irgendwann landete Helmut Schießl beim Berglauf. Hier fand er
seine Erfüllung und wurde zu einer Kultfigur im Allgäu.
Vielleicht tritt der Rebell Mitte August am Tegelberg bei der
deutschen Meisterschaft an. „Zur Revanche gegen den Verband", sagt
Schießl und schmunzelt. Eigentlich würde er aber zur gleichen Zeit
lieber mit dem Wohnwagen in die Schweiz fahren. Zum Klassiker
„Sierre-Zinal", dem „Course de Cinq 4000" in der atemraubenden
Kulisse der Walliser Alpen. Denn eigentlich läuft Helmut Schießl
lieber für sich als gegen andere.
© FAZ ROLAND WIEDEMANN
Nachtrag 13.08.06:
Helmut Schießl siegt bei der Berglauf-DM mit 46 Sekunden Vorsprung
vor Timo Zeiler.
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(Foto: Haglöfs)
Links:
www.berglauf.info
Goethe
Institut: Portrait Helmut Schießl
Schießl im
Wigald-Boning-Team
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