Artikel von Frank Heike, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.06.2001 "Das
Schönste ist, dass abends keiner mehr wegkommt" |
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HELGOLAND.
Zwischen Unterland und Oberland liegt die Hölle. Sie ist 110 Meter lang
und zieht sich in einer scharfen Rechtskurve 50 Höhenmeter hinauf.
Viermal müssen die Marathonläufer den Anstieg hinaufhetzen, egal, wie
sehr die Muskeln schmerzen, ganz gleich, wie sehr die Hitze plagt. Vor
zwei Jahren hat es beim Helgoland-Marathon gegossen, doch heute glitzern
Sonnenflecken im spiegelglatten Wasser vor der Nordseeinsel: 20 Grad,
keine Wolken, kaum Wind. Die Zuschauer am Höllenanstieg stehen unter
den Dächern der Boutiquen im Schatten. Jeder der 224 Läufer bekommt
seinen Applaus, egal, ob er morgens um neun Uhr, in Runde eins, wacker
den Anstieg nimmt oder vier Stunden später in der gleißenden
Mittagssonne die 110 Meter nur noch hinaufkriecht. „Hepp, hepp",
rufen die Zuschauer, aber die Läufer denken wohl nur: Wie soll ich nach
dieser Steigung noch einmal den Klippenwanderweg rund um die Insel
laufen, vorbei an der „Langen Anna", dem Lummenfelsen, auf der
gegenüberliegenden Inselseite durch den Tunnel steil hinab ins
Unterland, dann über die Mole?
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Aber die Mole in fünf Kilometer Entfer- nung ist noch so weit weg! Wenn man sich mit Frank Botter über die üble Schikane zwischen Unterland und Ober- land unterhält, den beiden besiedelten Teilen der 4,2 Quadratkilometer kleinen Insel, grinst der massige Bürgermeister. „Diesen Marathonlauf zu organisieren ist ja genauso schwierig wie einen 100-Meter-Lauf auf einem Bierdeckel", sagt der 43 Jahre alte Mann. Da kann man eben keinen Teil der Insel auslassen - und sei er noch so steil. Für die Tagesurlauber fährt ein Lift zwischen den zollfreien Einkaufsparadiesen oben und unten; mittags, wenn die vielen Menschen von den vor Helgoland ankernden Ausflugsdampfern in hölzer- nen Börtebooten auf die Insel verfrachtet werden, bilden sich lange Schlangen vor dem Aufzug. Einmal hoch, eine Mark, hoch und runter, eins fünfzig. Nur die Läufer müssen sich quälen. 2000 Touristen am Tag, 540 000 im Jahr, diese beiden Zahlen kennt Bürgermeister Botter im Schlaf. Aber er und sein Tourismusmanager müssen sich anstrengen. Helgoland ist kein Selbstläufer mehr, „nur noch ein Ausflugsziel von vielen". Den
Marathonlauf, in diesem Jahr zum vierten Mal ausgetragen, sieht Botter als
beste Werbung
für seine Insel. Komme nur jeder zehnte der 224 Läufer irgendwann einmal
als Tourist zurück nach Helgoland, habe sich der Aufwand schon gelohnt.
Die derzeit 1562 Helgoländer leben allein vom Fremdenverkehr. |
Eigentlich
ist das zweite Wochenende im Mai immer ein trauriger Tag gewesen für die
einheimische Tourismusbranche, denn zur selben Zeit feiert Hamburg seinen
Hafengeburtstag. Seit die Marathonläufer aber von Freitag bis Sonntag die
Insel bevölkern, ist der Einnahmeausfall erträglicher geworden - auch
wenn sie lieber zu viert in kleinen Pensionszimmern schlafen und sich
selbst verpflegen, wie eine Gastwirtin bemerkt. Jeden Meter Laufweg auf Helgoland, dem „heiligen Land", haben die Organisatoren vom einzigen Sportverein auf der Insel mit Beschlag belegt, um irgendwie auf die magischen 42,195 Kilometer zu kommen. Immer an den blauen Pfeilen entlang, und das viermal! Wer an der Mole die Orientierung verliert und ins Hafenbecken purzelt, wird von den Männern der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger geborgen – reine Vorsichtsmaßnahme, ist noch nie passiert, auch wenn das Wetter so sehr zum Baden einlädt wie anno 2001. Die abwechslungsreiche Strecke macht den besonderen Reiz des Laufes aus, sagt Volker Krajenski, der zweifache Sieger aus Helmstedt. „Das Schönste aber ist, daß abends keiner mehr wegkommt von den Läufern." Am späten Nachmittag verlassen nämlich die Dampfer und Katamarane die Insel. Ein Nachtboot gibt es nicht, bei Dunkelheit darf nicht mehr geflogen werden. Kein Entkommen. Also feiern abends alle Läufer zusammen in der Nordseehalle, rotgesichtig, glücklich, und erzählen sich von ihren Abenteuern aus der Welt des Marathons. |
Der
Alltag beginnt erst am Montag wieder. Geschichten gibt es genug zu erzählen.
Einer
hat sich Helgoland als Ort des hundertsten Marathons ausgesucht, ein
anderer läuft an seinem 65. Geburtstag den 65. Marathon.
Oder Jürgen Kuhlmey, ein promovierter
Chemiker: Im vergangenen Jahr ist er auf allen Kontinenten des Planeten
Marathon gelaufen, auch in der Arktis. Auf Helgoland biegt er nach vier
Stunden und fünfzehn Minuten auf die Zielgerade ein, setzt sich aber dann
noch zweieinhalb Minuten auf eine Bank: „Ich laufe jeden Marathon in
einer anderen Zeit, und es war nur noch 4:18 frei." Krajenski, der spätere Sieger in 2:42 Stunden, und Kuhlmey, der Weltenbummler, haben die „Hölle" zwischen Unterland und Oberland übrigens ganz anders wahrgenommen. Während im Hintergrund das Fell der Seehunde auf der Helgoländer Düne glänzt und die Touristen viel zu spät zur Sonnenmilch greifen, federt Krajenski die 110 Meter fast mühelos hinauf. Die Schmerzen kamen erst später. „War schon heftig, die Steigung", sagt er am Abend beim Bier. Der 63 Jahre alte Kuhlmey hat eine andere Taktik gewählt: hinaufgehen und dabei erholen. Am Tag danach treffen sich viele Läufer an der kleinen Fähre, die zur Badedüne übersetzt. Die grünen Marathon-T-Shirts leuchten überall im Sand. „Michael B.: 4:01" steht auf einer Mauer am Strand. Da gibt es schon ein Ziel für den fünften Marathon auf Helgoland. FRANK HEIKE |
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