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Artikel von © Brigitte Roth, FAZ vom 17.06.03

Nicht an Rekorden hängt das Glück
Auf dem ersten deutschen Down-Sportlerfestival

FRANKFURT, 16. Juni. Die Hauptdarsteller ziehen mit bunten Luftballons winkend in die Halle ein. Väter stehen mit Fotoapparaten und Videokameras ausgerüstet in Position für die ersten Bilder. Dann werden die Eltern auf die Tribüne geschickt. „Elma", ruft ein junger Mann, der dort eine Bekannte entdeckt. Rührende Szenen spielen sich beim 1. Deutschen Down-Sportlerfestival in der Sport- und Freizeithalle in Frankfurt-Kalbach an den Startblöcken ab. Mit einer herzlichen Umarmung verabschiedet sich ein junger Mann von seinem Vater, bevor er auf die 100-Meter-Strecke geht. Auf der Innenbahn reißt ein Sportler jubelnd die Arme hoch, weil er sich so freut, daß es für ihn in wenigen Sekunden heißt: „Auf die Plätze, fertig, los!" 

Spaß zu haben steht bei dem Wettbewerb für Menschen mit Down-Syndrom in jeder Disziplin im Vordergrund, beim Laufen über 100 oder 400 Meter, beim Weitsprung, Werfen, Radfahren wie beim Elfmeter-Schießen. Weil ihr Glück nicht von Rekorden abhängt, halten zahlreiche Läufer mitten auf der Strecke an, um ihren Fans zuzujubeln. Mit den Startnummern 59 und 72 laufen Laura und Jenny aus Kronberg im Taunus nach 100 Metern Hand in Hand ins Ziel. Die beiden Sechzehnjährigen sind Freundinnen. Ihre Zeiten? „Das wissen wir nicht." 

Um bei der ersten Sportveranstaltung dieser Art am Wochenende in Kalbach dabeizusein, haben viele weite Wege in Kauf genommen. Ruth Kurzweg-Otte ist mit ihrer Tochter Grietje aus Flensburg angereist. „So eine Fahrt ist ein kleines Abenteuer." Die Mutter ist stolz darauf, daß sie es gemeinsam geschafft haben, niederschmetternden Prophezeiungen zu trotzen. Ein Arzt hatte ihr gesagt: „Aus Ihrer Tochter wird nichts. Sie wird nur in der Ecke herum sitzen." Die Einundzwanzigjährige ist sportlich, hat bei den Leichtathletik-Landesmeisterschaften in Schleswig-Holstein beim Hammerwerfen teilgenommen. Und heute, beim Down-Sportlerfestival, hat sie beim Kugelstoßen eine Weite von 5,50 Metern erzielt. Sie kann alleine kleine Geschichten lesen - aber nur, wenn sie will. Sie zieht sich selbständig an und duscht ohne fremde Hilfe. Mit dem Rechnen hapert es bei Zahlen, die über die Zehn hinausgehen. Und beim Essen muß man gut auf sie aufpassen, da schlägt sie gerne zu. „Fünf Kilo muß sie wieder runterholen", sagt die Mutter, die auch zwei gesunde Kinder hat. 


Foto: Heike Rohde (www.down-info.de)

Wird bei einer pränatalen Diagnostik ein Defekt festgestellt, entscheiden sich mehr als 90 Prozent der Frauen für eine Abtreibung. „Gott sei Dank" habe sie von Grietjes Behinderung nichts gewußt, sagt Ruth Kurzweg-Otte. „Wir sind so froh, daß wir sie haben." Als das Baby zur Welt gekommen war, deuteten einige Zeichen jedoch sogleich auf das Down-Syndrom, unter an derem die schlitzförmige Augenstellung, weshalb man früher auch von Mongoloismus sprach. In Deutschland werden jährlich etwa 1200 Kinder mit dem Down-Syndrom geboren. Diese Menschen haben in jeder Körperzelle 47 Chromosomen, während sonst in menschlichen Zellen jeweils 46 Chromosomen vorliegen. Das Chromosom 21 ist dreifach vorhanden, weshalb die genetisch bedingte Behinderung auch den Namen Trisomie 21 hat. Die Erkrankung geht einher mit körperlichen Veränderungen und einer langsameren Entwicklung. Die Kinder sind kleiner, die feinmotorischen Bewegungen nicht so gut ausgeprägt. Viele Kinder sehen oder hören schlecht, was den Eindruck verstärkt, es liege eine erhebliche geistige Behinderung vor. Oft kommt ein angeborener Herzfehler hinzu. 

Der Herzfehler ihres Sohnes Klaas war für Karin Weißgerber aus Kiel viel schlimmer als die Behinderung. Beim Sportlerfestival in Kalbach hat er sich einiges vorgenommen. Der Siebzehnjährige, der das bronzene und silberne Sportabzeichen in Leichtathletik und Schwimmen vorweisen kann, tritt in fast allen Disziplinen an. Er wirkt frisch, obwohl er mit seiner Mutter 13 Stunden hierher gebraucht hat, so oft standen sie auf der Autobahn im Stau. Klaas macht Judo, reitet und beherrscht in der Zirkusschule solche Kunststücke wie Einradfahren oder Tellerdrehen. Mit der Aussprache hat Klaas seine Schwierigkeiten. Man muß sich einhören. Manchmal könnte seine Mutter verzweifeln: „Er gibt doch alles, aber gelobt werden oft nur die gesunden Kinder für ihre Leistungen. Unsere werden oft auf ihre Behinderung reduziert." 

Die Sportveranstaltung unter Gleichgesinnten ist etwas anderes. In Kalbach gibt es für die Kinder viel Applaus. Auch für diejenigen, die nicht bis ins Ziel laufen. „Nummer 39" hört nach 50 Metern auf, vor der Tribüne. Beifall für eine Mutter, die ihr Mädchen Huckepack über die Zielgerade bringt. Eltern absolvieren an diesem Tag auch ein beträchtliches Pensum, helfen am Start, spornen die Töchter und Söhne an, rennen mit wie die Tempomacher von Spitzensportlern. Liebevoll klebt ein Vater seinem Sohn die Startnummer wieder ans Hemd, die sich gelöst hatte. Nur ein einziges Mal ertönen Buhrufe, als sich Rolf „Bobby" Brederlow, vor einigen Jahren Hauptdarsteller in dem ARD-Film „Liebe und weitere Katastrophen", als Fan von Bayern München outet. Der Zweiundvierzigjährige, der in der Bayern-Hauptstadt lebt, nimmt's gelassen. 

Beim 400-Meter-Lauf verausgaben sich viele auf den ersten 200 Metern. Dann werden die Schritte immer langsamer. Eine Mutter feuert den Sohn an, doch weiterzumachen. Er war einfach stehengeblieben. Dann nimmt sie ihn an die Hand, und er schafft es. Neben ihm macht ein Mädchen einen Luftsprung vor Freude. Der 14 Jahre alte Marcel von Zwehl absolviert an diesem Tag die 400-Meter-Strecke in 1:27 Minuten. Das ist Bestzeit. 

Eine Athletin sitzt erschöpft am Boden, als Freunde sie schon zum Kugelstoßen rufen. Und dann ist auch bald Schluß. Klaas und Grietje freuen sich schon auf den Empfang am Abend in den Frankfurter Römerhallen, auf die Siegerehrung und auf die anschließende Feier. Beim wissenschaftlichen Symposion über „Möglichkeiten und Grenzen für Menschen mit Down-Syndrom" am folgenden Tag sind sie nicht mehr dabei. Sie haben gezeigt, was sie können.

© Brigitte Roth, FAZ 17.06.03 

Infos:
www.down-syndrom.org

1. Down Sportfestival

 

 


Foto: Heike Rohde
www.down-info.de
 


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