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Der lange Weg des Hirtensohns aus Algerien: Alain Mimoun wird achtzig

Ein Charlie Chaplin der Laufbahn in Zatopeks Schatten

Christian Eichler in
Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 30.12.2000

FRANKFURT. Er musste immer laufen. Er muss es noch immer. Jeden Morgen wärmt er seine Muskeln auf, zu Musik des Hiphop-Sängers MC Solaar, in der Garage seines Hauses in Champigny im Marne-Tal. Und dann geht er laufen, 15 Kilometer, zwei Stunden lang. „Meine tägliche Ration", hat er „L'Equipe" in diesem Sommer gesagt, und dazu entkorkte er, wie der Reporter ebenfalls festhielt, mit jungenhaftem Lächeln eine Flasche Saint-Emilion, Chateau de Lescours 1979. 

Wein und Zeit verflossen gewiss im Handumdrehen, denn Alain Mimoun, der an diesem Neujahrstag 80 Jahre alt wird, ist nicht nur der größte Läufer, den Frankreich je hatte, er ist auch einer der größten Erzähler, die der Sport hervorgebracht hat. Wer je den Film 

 

sah, auf dem er von seinem größten Tag erzählt, dem Olympiasieg 1956, mit dem er endlich aus Zatopeks Schatten trat, alles zum x-ten Male beschrieben und dennoch so geschildert und dargestellt, als geschähe alles in diesem Moment; wer erlebte, wie die Mimik beim Erzählen die Stadien des Marathons nachvollzieht, die Augen glasig, der Mund immer trockener werdend, wie er beschreibt, daß sein weißes Kopftuch ihm nach 30 Kilometern „eine Tonne schwer" vorkam, und dabei den Kopf so pantomimisch beladen bewegt, daß man wirklich eine Tonnenlast auf dem Haupte dieses jünglingshaften alten Mannes wähnt - wer dieses unvergeßliche Bilddokument sah, wird zustimmen, daß Alain Mimoun ein Meister der dramatischen Kunst des Laufens war und blieb. Ein Charlie Chaplin der Laufbahn. 

Mimoun Ouid Kacha, Hirtensohn aus einem algerischen Berberdorf, trat 1939 in die französische Kolonialarmee ein und gab sich den Vornamen Alain. Er kämpfte in Tunesien gegen Rommels Truppen, war an der Invasion Siziliens beteiligt und an der Schlacht von Monte Cassino. Dort durchschlugen drei Granatsplitter sein linkes Bein, und er entging nur knapp einer Amputation. Nach dem Krieg kam er als Kellner im Cafe des Racing Club de France unter, wo er auch trainieren konnte, und damit begann die Läuferkarriere jenes Mannes, der der Größte seiner Zeit hätte sein können, hätte es nicht einen noch Größeren gegeben, einen von Jahrhundertformat. Viele „ewige" Zweite verzweifeln daran, daß ihnen das Schicksal einen ewig Besseren vor die Nase gesetzt hat, doch Mimoun war zu lebenslustig für jede Verbitterung. 

Er hat seine zwölf Jahre dauernde Rivalität mit Emil Zatopek und ihre mehr als fünfzigjährige Freundschaft stets als Geschenk betrachtet. Als Zatopek vor fünf Wochen starb, sagte Mimoun: „Ich habe einen Bruder verloren." Ihre Wege hatten sich schon 1946 bei einem Crosslauf in Nordafrika gekreuzt. Zwei Jahre später wollte Zatopek ihn mit einem Mädchen aus seiner tschechischen Heimat verheiraten, doch Mimoun lehnte dankend ab. Er hat zehn Jahre lang den kürzeren gezogen gegen die „Lokomotive aus Prag", zweimal bei Europameisterschaften, dann bei den Olympischen Spielen 1948 über 5000 Meter, vier Jahre später ebenfalls, ganz knapp diesmal nur hinter Zatopek und vor dem Deutschen Herbert Schade, und dann auch über 10 000 Meter. Immer Zweiter, immer hinter Zatopek. Während dieser als Staatsamateur im Offiziersrang versorgt war, mußte sich Mimoun als Pförtner im Übersee- ministerium durchschlagen und nebenher trainieren.

Seine Stunde kam für den vierfachen Cross-Weltmeister im ersten Marathon seines Lebens, mit 35 Jahren. Schon auf der fünftägigen Flugreise nach Australien war er immerzu gelaufen, bei allen Zwischenstopps: auf der Straße in New York, im Hotelflur in Los Angeles, auf dem Flughafen in Honolulu, am Strand von Fiji. 

Am Vorabend des Rennens erreichte Mimoun, der seiner Frau den Start im Marathon verschwiegen hatte, das Telegramm aus der Heimat von der glücklichen Vaterschaft. Noch heute kann er mit aufgerissenen Augen seine Überraschung über den Schreibfehler der Depesche darstellen: Mutter und Kinder wohlauf, stand dort im Plural, „enfants" statt „enfant": „Ich dachte, es. wären Zwillinge geworden!" Es war ein Kind, eine Tochter. Er nannte sie, als er Olympiasieger war, Olympia. Die letzten zehn Kilometer, mit vielen Steigungen bei mehr als 30 Grad Hitze, waren auch für den kleinen, zähen Maghrebi-ner eine Tortur. Doch er erreichte das Stadion mit großem Vorsprung, und dann geschah etwas Unglaubliches: Mimoun spurtete nur so durch die Schlußrunde, so groß war die Freude, von Erschöpfung keine Spur:

66 Sekunden, nie wurden die letzten 400 Meter eines olympischen Marathons schneller gelaufen. Viereinhalb Minuten später kam Zatopek ins Ziel, als Sechster. Zum ersten Mal hinter Mimoun, dem auf dem Podest die Tränen zum Weinen fehlten: Er hatte vier Liter Flüssigkeit verloren.

So war, lange vor dem Einwandererkind Zinedine Zidane, auf dem Höhepunkt des Algerien-Krieges, erstmals aus einem kleinen Algerier ein Held Frankreichs geworden, den 15 000 Menschen bei der Rückkehr feierten, den de Gaulle empfing, der zum Kommandeur der Ehrenlegion ernannt wurde und zu Frankreichs „Leichtatmet des Jahrhunderts". Er nahm all das auch als Ausgleich für den Rassismus, den er wie andere Franzosen nordafrikanischer Herkunft ertragen mußte. Noch vor dem 10000-Meter-Lauf bei den Spielen 1948 hatte sich der französische MannschaftsMasseur geweigert, Mimoun bei der Vorbereitung zu helfen, und statt dessen dem Belgier Gaston Reiff die Muskeln geknetet. 

„Wir beide haben etwas gemeinsam", sagte de Gaulle zu Mimoun: „Wir überdauern." Bis heute hält Mimoun den ältesten Europarekord der Leichtathleten: den über 10 000 Meter in der Altersklasse bis 45 Jahre, 30:16,18 Minuten, erzielt 1966. Mit 51 lief er den Marathon noch in 2:34:36 Stunden. Mit 78 haben sie ihn noch mal eingeladen nach Melbourne und nach Sydney ins Olympiastadion, und da ist er im November 1999 durch die Absper- rungen gehüpft, hat sich die Schuhe ausgezogen und zwei Runden gedreht: „Der erste Olympiasieger im Stadion von Sydney", wie er mit diebischer Freude sagte. Er mußte einfach immer laufen. Er muß es noch immer.  

CHRISTIAN EICHLER

 

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