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Der große Traum und die große Traurigkeit
Wie ein Berg von Erschöpfung das Glück des Triathleten Thomas Hellriegel
auf Hawaii verdeckt

© von Michael Eder, FAZ vom 10.04.04
 


„Sei sicher, daß die Sache getan werden kann und muß. Dann wirst du einen Weg finden." 
(Abraham Lincoln, Motto des Ironman Hawaii)


Als Thomas Hellriegel, der Junge aus Büchenau bei Bruchsal, zum Triathleten wird, ist er achtzehn. Bis dahin hat er ziemlich gut Handball gespielt, ist geschwommen, hat Tennis gespielt, geturnt, gekickt, von allem ein bißchen - bis er 1989 eine Übertragung des Ironman auf Hawaii im Fernsehen sieht. Mark Allen und Dave Scott liefern sich über 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und im abschließenden Marathonlauf einen achtstündigen Kampf, Kopf an Kopf. Es ist ein faszinierendes Duell, eine Sternstunde des Triathlons, und da reift in Büchenau, das vom Pazifik ungefähr so weit weg liegt wie der Mond, ein wilder Entschluß. Hellriegel will nach Hawaii.

Es dauert sechs Jahre, dann ist er dort, „im heiligen Land der Triathleten", wie er sagt. 1995, bei seinem ersten Start auf Big Island, fährt er die Konkurrenz mit dem Rad in Grund und Boden. Dreizehn Minuten liegt er vor Allen, als er auf die Laufstrecke geht. Nach 38 Kilometern, drei Kilometer vor dem Ziel, überholt ihn Allen. Zweiter. Hellriegel kommt wieder. 1996 geht er mit drei Minuten Vorsprung auf die Laufstrecke. Hellriegel läuft den Marathon nach 3,8 Kilometern Schwimmen und 180 Kilometern auf dem Rad in 2:46:55 Stunden, doch Langstreckenweltmeister Luc van Lierde ist noch schneller, der Belgier bricht den Streckenrekord, überholt Hellriegel kurz vor dem Ziel. Zweiter. Wieder nur Zweiter. Hellriegel kommt zurück. 1997 soll es gelingen, und als er am 18. Oktober in der Bucht von Kailua-Kona ins Wasser steigt, hat er ein Jahr hinter sich, das er wie ein Mönch verbracht hat. Nur: Er hat nicht gebetet, er hat trainiert.

„Die Frage ist: Wieviel willst du dir und deinem Körper zumuten? Die Frage ist aber auch: Wieviel willst du deiner Umwelt zumuten? Ich war in diesem Jahr bereit, allen extrem viel zuzumuten, auch den Menschen in meiner Umgebung. Es gab nur noch Training, Essen, Schlafen, es gab nur noch Sport. Ich habe für nichts anderes mehr Interesse gezeigt. Ich bin um neun, um zehn ins Bett, ich habe genau auf die Ernährung geachtet, ich habe versucht, alles zu optimieren, ein ganzes Jahr lang, alles war Hawaii, dem großen Ziel, untergeordnet. Am Ende war ich 800 Kilometer geschwommen, mehr als 20000 Kilometer radgefahren, 4500 Kilometer gelaufen. Ich hatte kaum noch sechs Prozent Körperfett, ich war an der Grenze."

Hellriegel, mittlerweile 26 Jahre alt, hatte ein Jahr am Limit gelebt, acht Stunden Training am Tag, Verzicht auf Privatleben. Ein ganzes Jahr manisch fixiert auf einen einzigen Tag, auf einen großen Traum. Im Flugzeug, im Supermarkt trägt er eine Wollmütze, nur nicht erkälten, nur nicht krank werden jetzt.

„Wäre ich in den Jahren zuvor zweimal Fünfter gewesen oder Achter oder Zehnter, dann hätte ich vielleicht gedacht, du bist ein guter Profi und bist vorn dabei, das ist in Ordnung, aber durch die zweiten Plätze bekommst du einen Kick. Ich hatte anfangs ja nie damit gerechnet, auf Hawaii gewinnen zu können. Ich hatte den Ironman im Fernsehen gesehen, dann war ich mit 24 zum erstenmal auf Hawaii und plötzlich habe ich auf dem Rad Mark Allen, der großen Legende, mehr als zehn Minuten abgenommen. Er hat mich zwar noch geschlagen, aber es hat nicht viel gefehlt. Dann denkst du: Die zwei Minuten, die fehlen, die sind auch noch drin. Die zweiten Plätze haben mir gezeigt, was möglich ist - daß ich gewinnen kann."

Die 3,8 Kilometer Schwimmen im offenen Meer sind für die weitbesten Triathleten eine leichte Übung. Die ersten fünfhundert Meter sind hart, da geht es zur Sache; aber dann hat jeder seine Position gefunden, dann wird es ruhiger, der Puls sinkt, keiner schwimmt mehr im roten Bereich. Nach einer knappen Stunde beginnt das Rennen, auf dem Rad.

„Du merkst schnell, ob es rollt oder nicht, ob die Beine gut sind oder nicht, und diesmal wußte ich gleich, daß es laufen würde. Es ist etwas sehr Spezielles, in Hawaii auf dem Rad zufahren. Da sind 1500 Leute am Start, alle extrem trainiert, und keiner kann dir folgen, das ist faszinierend."


Je schwieriger die Bedingungen, desto besser für die starken Radfahrer, desto besser für Hellriegel. Und das Wetter meint es diesmal gut mit ihm. Die Bedingungen sind so hart wie seit zehn Jahren nicht mehr: 38 Grad im Schatten, hohe Luftfeuchtigkeit und ein Wind, der im Laufe des Tages Sturmstärke erreicht, Böen mit 70 Kilometern pro Stunde blasen den Athleten entgegen. Hellriegel läßt sich mehr Zeit als in den vergangenen Jahren. Er hat seine Lektion gelernt. Langstreckentriathlon, das ist eine Frage der Balance. Wie schnell darf ich radfahren, damit ich anschließend noch schnell laufen kann? Hellriegel fährt an der Spitze in einer Vierergruppe. Jürgen Zack aus Koblenz ist dabei, der Amerikaner Ken Glah und der Australier Chris Legh.

„Die Schmerzen kommen beim Radfahren. Rücken, Beine, Nacken. Ich denke sonst oft ans Aufgeben bei einem Ironman, fünfzigmal, hundertmal, aber diesmal kam dieser Punkt nicht. Wenn du vorn liegst, keine ernsten Probleme hast und deinen Traum vor Augen siehst, dann geht es immer weiter. Im Rennen - ich weiß nicht, warum - überkommt mich oft eine große Traurigkeit, auch diesmal. Das war schon immer so. Eigentlich bin ich niemand, der zu Depressionen neigt, im Gegenteil, ich freue mich auf jeden Tag, aber im Rennen, in diesem Ausnahmezustand, fühle ich oft eine so tiefe Traurigkeit, daß ich weinen könnte. Sie kommt und geht, ich kann das nicht kontrollieren. Wenn ich in Führung liege und alles gut läuft, ist das nicht anders, im Gegenteil: Es ist dann meist sogar extremer, aber es behindert mich nicht, es ist nicht leistungshemmend, ich habe sogar das Gefühl, daß ich auf dem Rad dann härter, daß ich schneller fahre."

Zack versucht ein paarmal, aus der Gruppe wegzufahren, was für Hellriegel den Vorteil hat, daß das Tempo hoch bleibt. Er kontert und läßt den Konkurrenten am Ende doch ziehen - in der Gewißheit, ihn beim Laufen wieder einzuholen. Hellriegel kommt drei Minuten nach Zack in die Wechselzone. Umziehen, eine Minute Pause.

„Wenn du dich hinsetzt, reagiert dein Körper wie ein Auto, das einen ganzen Tag über die Autobahn geprügelt wurde und nun anhält. Er läuft heiß. Ohne Fahrtwind fängt dein Körper an zu kochen, du mußt ihn mit Wasser kühlen. Du versuchst, ruhig anzulaufen, damit sich die Muskulatur an die andere Belastung gewöhnt."

Hellriegel braucht keine zehn Kilometer, um zu Zack aufzuschließen. Fünf, sechs Kilometer laufen sie nebeneinander her.

„Die Schmerzen nehmen zu, durch die Erschütterung, durch den ständigen Aufprall der Füße auf dem Asphalt, du bist total verspannt, steif, und irgendwann ist es nur noch der Kopf, der dich vorwärtsbringt. "

Bei Kilometer fünfzehn greift Hellriegel an.

„Ich habe das Tempo forciert, um zu sehen, ob er mitgehen kann, und dann bin ich relativ schnell weggekommen. Euphorie? Wenn du merkst, daß der andere nicht mitkommt, spürst du ein Triumphgefühl, dann wenden sich die Gefühle ins extrem Positive, aber das hält nicht lange."

Und nun läuft Hellriegel wie in den beiden Jahren zuvor wieder allein in Richtung Kailua-Kona.

„Eigentlich bin ich nicht mehr in Bedrängnis gekommen, aber ich hatte nach den letzten beiden Jahren eine riesige Angst, es könnte mich wieder einer überholen. Dann, zwei Kilometer vor dem Ziel, hat mir ein Zuschauer eine deutsche Fahne in die Hand gedrückt. Ich war so müde, es hat so weh getan in den Beinen und am Arm, ich wollte die Fahne wieder weglegen, aber ich habe sie doch behalten. Die letzten hundert Meter sind die Schmerzen weg, dann spürst du nichts mehr, dann bist du am Ziel der Träume. Deshalb habe ich mit Triathlon angefangen, deshalb habe ich jahrelang trainiert, für diese zehn, zwanzig Sekunden. Kurz vor der Ziellinie habe ich mich noch einmal umgedreht - und keiner war da."

Nach acht Stunden, dreiunddreißig Minuten und einer Sekunde ist Hellriegel am Ziel, aber er sieht nicht aus wie einer, der sich seinen Traum erfüllt hat. Er ballt die Faust, als er über die Ziellinie geht, eine fast hilflose Geste, kein Überschwang, kein Pathos - das große Glück liegt verschüttet unter einem Berg von Erschöpfung. Als später Chris Legh angewankt kommt, der Australier aus Hellriegels Radgruppe, liefert er einen Eindruck, wie hoch dieser Berg sein kann. Legh bricht auf der Zielgeraden wegen einer Sauerstoffunterversorgung zusammen - als wäre er ein Bergsteiger kurz vor dem Gipfel des Mount Everest. In einer Notoperation wird man ihm später sechzehn Zentimeter Darm herausschneiden. Hellriegel bekommt das Drama um den Konkurrenten nicht mit. Er hat genug mit sich selbst zu tun.

„Du bist so geschwächt, so müde - und so froh, daß es vorbei ist. Du bist glücklich und kaputt, der Körper ist leer. Und du kannst es nicht fassen. Ist es tatsächlich passiert? Ich war nicht sicher, ob alles wahr ist, ob das die Realität ist, man braucht Zeit, um alles zu ordnen. Es war ein langer Tag, und wenn du jetzt fünf Minuten stehst, kommst du kaum noch vom Fleck. Der Körper fährt herunter, und auch der Kopf braucht Zeit."

Die ersten Interviews. Hellriegel berichtet vom „schwersten Rennen" seines Lebens, eine Stunde liegt er im Sanitätszelt, ehe er zur Dopingkontrolle gerufen wird, dann muß er sich im Hotel wieder hinlegen. 35 000 Dollar Siegprämie hat ihm das Rennen gebracht, nicht viel für all die Strapazen, aber er hat mehr gewonnen. Er ist der erste - und bis heute einzige - deutsche Sieger auf Hawaii. Das wird sich auszahlen in den nächsten Jahren. Am Tag darauf, bei der Siegerehrung vor dreitausend Zuschauern, tritt er mit Blumenkränzen geschmückt auf die Bühne. Noch immer wirkt er müde, aber dann blitzt der Stolz aus seinen Augen, als er zum Mikrophon greift und ein paar Worte spricht:

„Für mich ist ein Traum wahr geworden. Ich habe mit Triathlon begonnen wegen Hawaii, und alles, was ich wollte, war, dieses Rennen zu gewinnen. Ich möchte noch alle Athleten beglückwünschen, die es gestern ins Ziel geschafft haben. Es war ein sehr, sehr hartes Rennen. "

Hellriegel fliegt zurück nach Frankfurt. Büchenau. Aus der Hitze Hawaiis in den deutschen Spätherbst, in den deutschen Winter. Er ist oft krank.

„Ich war so dünn. Als ich zurück war in Deutschland, habe ich ständig gefroren, das ganze Jahr war sehr grenzwertig - aber es hat sich gelohnt."

© von Michael Eder, FAZ vom 10.04.04
 

 





Foto: Triathlon-TEAM  Witten

 

 

 

 


Foto: www.yk.rim.or.jp


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